In 2017 I began to write a survey of short fiction, including the short story, in the USA. I have reached the 1990s so far and I am working on Deborah Eisenberg, George Saunders, and Lydia Davis. The typescript runs to 590 pages, and I am cutting down to 250. The first draft is in German. 

This page will contain a chapter-outline, some abstracts of  what the chapters contain, followed by some samples from the text.

I have reached chapter 8, and I will add samples from each chapter


Gliederung 23 c


Kapitel

0.. Erzählen: Einfache Formen, komplexe Beziehungen 

1.. Prototypen in Asien und Europa: bis 1600 

2.. Koloniale Anfänge und Revolution, 1600-1800 

3.. Grundlegungen: Irving, Caitlin, Folklore, 1800 -1830  

4.. UrbanisierungKonstruktion einer National-Literatur, 1830-60 

5.. Skizzieren als Teil von Kulturindustrie, 1860-1900 

6.. Weltliteratur: Hegemonie 1900-1960

7.. Krise und Kulturrevolution, 1960-1990 

8.. Digitalisierung und globale Krisen 1990-2020  

9.. Rückblick und Inferenzen


Details:


INHALTSVERZEICHNIS


0.. EINFACHE FORMEN – KOMPLEXE BEZIEHUNGEN


Einfache Formen: Der Witz – Dialog, Dialekt, …

Komplexe Beziehungen: Klasse – Alter – Sexualität – Ethnizität, Dominanz – Widerstand; Gleichheit – Ungleichheit, Anekdote


1.. PROTOTYPEN

Folklore: Typologie – Varianten – Phasen der Entzauberung – Mythos - Legende – Erzählung

Antike: -Homer - Theokrit - Aelianus -Athenaios –

MittelalterLegenda aurea – Karneval,

Renaissance: Boccaccio – Tod und Leben im Decamerone (Abenteuer, Liebe, Ehe, Erfolg, Tod) Konstruktion einer Skizze (Leonardo da Vinci) Skizzieren in der Kunst – Genremalerei in Holland


2.. KOLONIALE – 1800

Anfänge: Entdecken, Erobern, Besiedeln – Briefe - Berichte - Tagebücher

Puritanismus: C. Mather –

Aufklärung: J. Addison, The Spectator (1711/12 )– B. Franklin – de Crevecoeur – Th. Paine - C. B. Brown, Alcuin (1798)


3.. LOKALKOLORIT – 1840

Lokalpatriotismus und Absetzung von England

Romantik: W. Irving, The Sketchbook of Geoffrey Crayon, Gent. (1819/20), Reise, Genre, Porträt, Lokalisierung – N. Hawthorne, Twice Told Tales (1837) Allegorisierung des Lokalen – G. Catlin, Letters and Notes on the Customs, Manners, and Conditions of the North American Indians (1841) Ethnographie

Folklore: Sammlungen – Typen - Verarbeitungen


4.. REGIONALISIERUNG UND URBANISIERUNG -1860

Regionalisierung: C. Kirkland im Westen C. M. Sedgwick Factory Girls (1842) und The Voice of Industry (1845) – M. Fuller im Westen und in Europa (1844) – Thorpe im Südwesten (1846) – J. P. Kennedy im Süden (1851) A. Cary im Westen (1852)

Urbanisierung: E.A. Poe, Tales (1840, 1845) – L. M. Child, Fact and Fiction (1846) Fern –

National-Literatur: H. B. Stowe, Key to Uncle Tom’s Cabin (1852) – H. D. Thoreau, Walden (1854) – H. Melville, The Piazza Tales (1856) – L. Alcott, Hospital Sketches (1863)


5.. REKONSTRUKTION ZUR NATIONAL-LITERATUR UND KULTURINDUSTRIE – 1920

Realismus: M. Twain, Innocents Abroad (1869) – B. Harte (1870) – G. W. Cable (1879), J. C. Harris (1880), T. N. Page (1887) - H. James, The Real Thing (1890) - E. Wharton (1904), W. Cather (1905),

Naturalismus und Symbolismus: H. Garland (1891), A. Bierce (1891) C. P. Gilman (1891) - K. Chopin, Bayou People (1894) - L. Hearn, Chita (1899) – – H. Crane, The Monster a. o. Stories (1899) – J. London, The People of the Abyss (1903) – O. Henry, Cabbages and Kings (1905) – Kulturindustrie: H. James (1910), M. Twain (1916), Dreiser (1918)?

Industrialisierung: Pulps als industrielle Schematisierung von Abenteuer – Romanze – Heim – Gemeinschaft – Tod und Geistern



6.. WELTLITERATUR UND HEGEMONIE – 1960

Modernismus aus EuropaFreud in S. Anderson Wineburg, Ohio (1919) – Duchamp in G. Stein, Geographieand Plays (1922) – Harlem Renaissance und J. Toomer, Cane (1923) – Feminismus und D. Barnes A Book (1923) – Turgenjew und E. Hemingway In our Time (1925) –

New Deal und sozialer Realismus: K. A. Porter Flowering Judas (1930) – Steinbeck, Tortilla Flat (1935) - J. Farrell Guillotine Party a. o. Stories (1935) H. Miller, Black Spring (1936), W. Faulkner, The Hamlet (1940), J. Agee w. W. Evans, Let Us Now Praise Famous Men (1941)

Kalter Krieg und Existentialismus: N. Algren, The Neon Wilderness (1945) R. Bradbury, The Martian Chronicles (1950) J. Salinger, Nine Stories (1953) – F. O’Connor, A Good Man is Hard to Find (1955)





7.. KULTURREVOLUTION UND POSTINDUSTRIELLE LITERATUR – 1990

Kulturrevolution der 60er: G. Paley The Little Disturbances of Man (1959) – W. S. Burroughs, Naked Lunch (1959) – L. Jones The System of Dante’s Hell 1963) J. Barth Lost in the Funhouse (1968) – D. Barthelme City Life (1970) - J. Kerouac Visions of Cody (1972)

Diversität und Minoritäten: John Barth, Lost in the Funhouse (1968) M. H. Kingston The Woman Warrior (1975) – R. Hinojosa The Valley (197X) - Leslie Silko, Storyteller (1981) – S. Cisneros The House on Mango Street (1984) Bh. Mukherjee The Middleman a. o. Stories (1985)

Skizzieren als professionelle Dienstleistung


8.. DIGITALISIERUNG UND KRISE 1990 – 2020

Postmodernism F. Jameson

Krisen: D. Eisenberg, Under the 82nd Air Borne (1992) - G. Saunders, CivilWarLand in Bad Decline (1996)– T. Morrison, Paradise (1997) – Tobias Wolff, Our Story Begins (2008) - L. Davis, Varieties of Distubance (2007) – J. Lahiri, Dove mi trovo (2018)

Dienstleistung: BASS of 2020, G. Saunders A Swim in the Pond (2020)

Digitalisierung: Sketching Elektronische Literatur - R. Coover –

Hypertext – Chat-GTP


9.. RÜCKBLICK 1800-2020

Skizzieren als Beschreiben und Erzählen: die Lokalskizze vom Land zur Stadt– die Charakterskizze vom Porträt zum Rätsel – die Genreskizze vom Erzählen zum Zeigen: Szene – Skizzieren als Sehen: vom Zuschauer zum reflektierenden Beobachter – Skizzieren als Ensemble: von der Serie zur offenen Konstruktion von Vignetten (The Sketchbook - The Encantadas – Cane - In Our Time – The Hamlet – Paradise) Skizzieren als Experiment


(unter Revision)

 

EINIGE AUSZÜGE:


0.. Einfache Formen, komplexe Beziehungen


Kurzprosa ist was wir täglich reden. Manchmal kürzer, manchmal länger. Wir erzählen was vom Vortag, dialogisieren es, wir be-schreiben etwas Entlegenes, wir erklären, wir argumentieren, was wir machen sollen usw. Oft re-präsentieren wir, ver-gegenwärtigen Abwesendes für Anwesende. Dies sind einige der grundlegenden Weisen, in denen wir Prosa nützen, mündlich oder schriftlich (Blancafort 1999).

Das Meiste davon ist bald darauf wieder vergessen, nur im Kurzzeitgedächtnis gespeichert. Unser Gedächtnis ist episodisch. Wir erinnern uns an etwas Vergangenes (Ferien, Fest, erste Liebe, Gefahr) meist als Ereignis.

Und diese Ereignisse wiederholen sich: unser Gedächtnis lernt sie als Schema oder Skript abzuspeichern: ein Kinderspiel, ein Restaurantbesuch, eine Schulstunde, einen Besuch in der Oper oder beim Arzt usw. Das alltägliche Schema (das Muster) hilft uns neue Ereignisse zu erkennen und zu bewerten.

Deshalb erzählen wir gerne etwas Neues, nicht-Alltägliches: Etwas Komisches, Seltsames oder sogar Wunderbares („Rate mal, wer (bei) mir letzte Woche erschienen ist?“ statt „Gestern habe ich mir die Zähne geputzt.“) So etwas liegt wohl in der Sprache selbst: Fragesatz, mal Hilfsverben, Doppelbedeutungen usw. Man nennt solche Muster von Kurzprosa, die wir alle mit der Sprache erlernen, „einfache Formen“ (Jolles 1930) und man unterscheidet u. a. folgende sieben Formen: Sprichwort, Rätsel, Kasus (Fall, Exempel) Mythos, Legende, Sage und Witz sind schematisierte Muster.

Der Witz erlaubt uns eine Einleitung in die mündliche Kurzprosa und bereitet uns auf die komplexeren Formen wie Kurzgeschichten, Novellen, Skizzen oder Sketch-Stories vor.

Beginnen wir mit einem kurzen Beispiel:


(1) In der Oper. Der Tenor tönt: „Ich liebe dich, ich liebe, ich liebe dich!“
Belustigte Stimme auf der Galerie:
 „Dich is jut.“ (Baer 1969, 24)


Wer etwas von Dialekten weiß versteht sofort: dies ist ein Berliner Witz („jut“, „Dich“). Zugrunde liegt das Opern-Schema der Liebes – Arie von Tenoren. Zur Verdeutlichung ein weiterer Berliner Witz:


(2) Auf der Straße üben Mädchen Seilspringen.
Klein-Gerda: „Ewa, laß mir mal.“
Lehrerin, die gerade vorbei geht:
„Aber Gerda – laß m i c h mal.“
 Gerda: „Also jut, Ewa, laß ihr mal.“ (Baer 1969, 46)


Offensichtlich gelingt es der Lehrerin nicht, das Hochdeutsche gegen das Berlinische, die Volkssprache durchzusetzen. Mehr noch, Gerda missversteht den Satz (Doppelbedeutung vom betonten „mich“) und fordert Eva auf, die Lehrerin auch mal springen zu lassen. Ein Kinderspiel. Vielleicht holt Gerda die Lehrerin listig von ihrem hohen Ross, soll sie doch selbst mal springen! Wir lachen und bewerten das Ereignis.

Nehmen wir ein etwas eindeutigeres Beispiel:


(3) Robert Koch zu einer neuen Patientin:
„Nehmen Sie sich bitte einen Stuhl, liebe Frau.“
„Ich bin keine >liebe Frau<“, erwiderte sie, „ich bin die Gräfin Zitzewitz.“
 „Denn nehmen Se eben zwei Stühle.“ (Baer 1969, 55)


Wieder wird eine Person vom hohen Ross geholt, auch durch den Wechsel in die Volkssprache („Sie“, „Se“). Robert Koch ist schlagfertig. Was bei Gerda offen bleibt, ist hier eindeutig: Koch pariert einen Adelsausfall. Die Volkssprache, die Mundart, der Berliner Dialekt eignet sich dazu, Autoritäten wie klassische Oper, Lehrerin oder Gräfin lächerlich zu machen. Im letzten Fall wird der Dialog sogar einem berühmten Berliner Arzt zugesprochen. Der Witz wird hier zur Anekdote. Eine treffende Antwort, eine Pointe wird wie ein Sprichwort in die Alltagssprache übernommen. Die ersten beiden Beispiele könnten wir als eigene Erfahrung erzählen: „Gestern war ich in der Staatsoper ...“ oder „Gestern war ich im Görlitzer Park.“ Das dritte aber nicht.

„Dialekt“ wird ein Schlüsselwort in diesem historischen Versuch sein. Raymond Williams hat solche Schlüsselwörter alphabetisch in Keywords (1983) zusammengestellt und ihren komplexen Bedeutungswandel durch die Jahrhunderte konstruiert. Wenn immer ich im Folgenden auf dieses Werk von Williams verweise handelt es sich um Schlüsselwörter bei der Entwicklung der Sketch-Story. Jahrhunderte kürze ich ab wie er: C18, C19, C20 usw. Diese Verweise ersparen mir Ausführungen zum historischen Zusammenhang zu der Zeit. „Naturalismus“ (naturalism) ist so ein Schlüsselwort. Steht es als Übersetzung kursiv in Klammern, verweist dieses auf Keywords. Bei neueren Schlüsselwörtern (situation) verweist die Klammer direkt zur Wikipedia.

Gehen wir noch einen Schritt weiter, und der Witz wächst herüber in die Kurzgeschichte.


(4) Fontane erzählt, er sei bei einem Gemüsehändler vorbeigekommen, der gerade einen kleinen Jungen ohrfeigte. Auf seine Frage nach dem Grund habe er angegeben:
 „Jeden Tach, wenn er aus der Schule kommt, stellt sich der Bengel hier vor meinen Kella und wenn niemand aufpaßt, pinkelt er mir in‘t Sauerkohlfaß. Schad nix, richticht, aber wat soll der Unsinn?“ (Baer 1969, 33)


Der Gemüsehändler ist doppelt schlagfertig, er pariert die Einmischung von Fontane. Aber Fontane erzählt die Geschichte, er rahmt, beobachtet und reproduziert die Begegnung parteilich. Der Gemüsehändler wehrt sich. Er antizipiert ironisch die Erwiderung Fontanes. Fontane amüsiert sich über die Abwehr. Aus diesen drei Figuren und der Schule sowie aller Beziehungen zueinander ließe sich eine längere Geschichte spinnen. Eine Lausbubengeschichte wie bei Mark Twain, zum Beispiel. Oder eine Charakterskizze eines witzigen Gemüsehändlers, der seine Kunden, welche täglich bei ihm vorbeikommen, etwas erzählt. Wie beim Opernbesuch kommt viel darauf an, auf welcher Seite man steht: Tenor oder Berliner, Fontane oder Gemüsehändler. Hinter allen vier Witzen steht ein Stück Aggression (Freud 1975).

Warum? In allen Witzen geht geht es um Dominanz, anders gesagt um Konflikte zwischen Klassen (Fontane/Gemüsehändler), Geschlechterrollen (Dr. Koch / Gräfin), verschiedenen Sprachgruppen (Tenor/Berliner Galerie), Generationen (Lehrerin/Schülerin). Die Konflikte überlagern sich: bei der Gräfin Zitzewitz geht es auch um Klassen, und Sprachgruppen, der Tenor kollidiert mit Klassen (die Galerie gegen die Hochkultur) usw. Hinzu kommt noch ein vierter Konflikt: das Alter. Die berühmten Schülerwitze, welche diese über Lehrer machen und umgekehrt (Witze „aus Kindermund“).

Was haben die vier Witze mit der Kurzgeschichte oder der Novelle zu tun? Bei allen geht es um Dialoge, genauer um eine witzige Erwiderung, ein Witzwort. Es geht um ein Erzählmuster, ein Ereignis-Schema, das allen vier zugrunde liegt. Der Witz liegt in der Umdrehung einer Erwartung, die bei den Zuhörern eine blitzartige Erkenntnis der Zusammenhänge im Ereignis auslöst. Diese Zusammenhänge sind immer gesellschaftliche Beziehungen und meist Macht-Konflikte. In den Cultural Studies heißt diese Formel oft class, gender, race, wobei race meist ethnische Konflikte, z.B. zwischen Einwanderergruppen und Religionen mit meint. Dazu kommt noch age (Barker 2009, insbes. Kap 1, 8,9, 13 und 14; vgl. Kramer 1997). Die ethnische Volkssprache bietet eine solidarische Schutzmauer gegen Zumutungen von Autoritäten wie klassischer Oper, Hochsprache, Adelstitel oder Sinn. Diese stehen alle vier für Dominanz oder Machtanspruch. Die Schülerinnen und die Berliner Opernbesucher halten zusammen. Robert Koch weist die Gräfin darauf hin, dass sie ganz alleine ist. Fontane ist auch nur ein Kunde von Gemüsehändlern.

Die vier Kategorien – selbst konfliktreich - werden uns durch das Buch begleiten. Dominanz in ihnen heißen im Amerikanischen: Classism: Dominanz von Klassen; Adultism: Dominanz von Altersgruppen (gegen Kinder oder ältere Menschen); Sexism: Dominanz von Geschlechtern (meist gegen Frauen, aber auch diverse); Ethnocentrism: Dominanz gegen Andere (meist an Hautfarbe, aber auch an Kultur erkenntbar: andere Sprache, andere Religion, andere Sitten).

Classism + Ageism + Sexism + Ethnocentrism (statt „Racism“) = CASE. Die vier Kategorien überschneiden sich: rassistische Angloamerikaner nennen erwachsene Afro-Amerikaner „boy“, beide nennen vielleicht ihre weiblichen Partner „baby“ (und meinen das positiv), reichere Männer nennen ihre Frauen geweinnorientiert „precious“, Afroamerikaner nennen ambivalent ihre weißen und schwarzen Gegner „motherfucker“ („du hast meine Mutter oder Großmutter vergewaltigt“). Die Alltagssprache (vernacular) durchziehen diese Konflikte, die letztlich auf die Ubleichheiten in Gesellschaften zurückgehen (Piketty 2022, 191-219).

CASE verweisen auf Grundkonflikte der US-Kultur. Sie stammen aus zwei Grundkonflikten seit der Kolonisation im C17: dem Widerstand gegen ethnische Dominanz (Genozid von Eingeborenen und Versklavung von Afrikaner/innen, die Masseneinwanderung) und gegen Sexismus (Massenimport von Frauen für männliche Siedler, deren Domestizierung während der Industrialisierung im C19). Sexismus und „Rassimus“ (ethnische Diskriminierung) gibt es auch in Berlin. Aber der Widerstand dagegen spielte in den US bereits eine frühe Rolle. Wer sich in diesen Kontroversen nicht auskennt, findet in den Oxford Handbüchern zur US Literatur eine gute Orientierung. The Oxford Companion to Women’s Writing in the United States (OCWW 1995) hat Einträge zu Class, Ageism, Sexism, und Ethnicity. The Oxford Companion to African American Literature (OCAAL 1997) enthält ähnliche Einträge. Es gibt auch eine Neuauflage des Handbuchs zur Kinderliteratur (OOCL 2015)

Nicht alle vier Kategorien (CASE) spielen in allen Witzen mit. Dreimal wird der Altersunterschied neutralisiert oder verschoben (der „Bengel“), das Geschlecht (liebe). Aber immer wehren sich BerlinerInnen gegen die Dominanz des Hochdeutschen. Das war das Auswahlprinzip der Witz-Sammlung. (Ginge es um Schülerwitze wäre ADULTISMUS die häufigste Kategorie). Die Dominanzverhältnisse zwischen Geschlechter-Rollen, Ethnizität, Alter und Klasse überlagern sich z. T. In komplexer Weise („Zitzewitz“ stammt aus Hinterpommern, ein witziger Name wohl nur in Berlin).

Die männliche Dominanz über Frauen wird in den Stories aus den USA von 1800 bis 2000 eine wichtige Rolle spielen. Eine aufschlussreiche Theorie dazu hat Pierre Bourdieu (2005) geliefert. Dominanz ist eine Form symbolischer Gewalt. Für die männliche Herrschaft (Dominanz) ist die Familie zentral, welche auch deren Reproduktion übernimmt (120-26) Diese Gewalt verkörpert sich bis hin zu Charakter, Dispositionen (Habitus), Gebräuche, Wahrnehmung und Körpersprache – alles zentrale Themen in Sketch-Stories der USA. Sie verkörpert sich auch bis zur Ver-gewaltigung und zum Femizid, der Ermordung der „eigenen“ Gattin. Zum „Black Lives Matter“.

Klassische Rassismus-Theorien haben durch die Erforschung der menschlichen Genoms an Gültigkeit verloren. Es gab zuviele konzeptionelle Verirrungen (Arndt 2021). Schon länger ist in den USA deutlich geworden, das race/ethnicity eg zusammengehören (Childers / Hentzi 1995, 250-532). Sichtbare biologische Kennzeichen wie Haut- oder Augenfarbe wurden mit der Versklavung oder Diskriminierung indigener Völker aus Nordamerika, Afrika oder Asien wichtig zu deren sozialen und ökonomischen Diskrimierung. Weiße oder blonde Sklaven hatten es leichter, aus den USA zu entkommen als andere. Wie beim Sexismus spielten biologische Merkmale vor allem der Stigmatisierung des anderen Geschlechts. Kolonisierte Völker aus Indien, China, oder Mittelamerika konnten an der Einreisung behindert oder anschließend diskriminiert werden. Osteuropäische Juden waren eher an ihrer Kleidung und Haartrcht erkennbar. Auch sie wurden diskiriminiert. Der Begriff antiseitism

Rassismus und Sexismus haben viel mit mit Ausbeutung zu tun. Sie sind ein Teil des Klassimsus, welches schließlich auch den Adultismus mit einexchließt, z.B. die Ausbeutung von Kindern. Deren theoretischen und historaixhen Zusammenhänge bedürfen wieter der Klärung (Wright 1985; Piketty 2022). Die Ideologie des Liberalismus und Individidualismus hat seit dem C19 eine Klassenanalyse erschwert (Wallerstein 2011). In den Medien besonders der USA hatten kritische Analysen der Ausbeutung (ausgenommen die Sklalverei) kaum stattgefunden. Die Ansätze einer amrikaniqchen Abeiterliteratur um 1840 liegen, wie wri sehen werden, in den Sketch-Stories von Fabrikarbeiterinnen.

„Adultismus“ ist eine relativ neue Prägung (USA 1978). Seine Wurzeln liegen in der patriarchalischen Familie. Den Grund für eine neue Einstellung zu Kindern legte Dr. Benjamin Spock (1946) mit einem Bestseller, welcher in den USA die Kindererzeihung nachhaltig verändern sollte. Spock hatte das Elend der Kindheit, welches S. Freud in Gewalt und Missbrauch aufgedeckt hatte, durch humanere Erziehungsweisen zu beenden versucht. Spocks Name hat es als Kommandeur bis in die TV-Serie Star-Trek geschafft. Er wurde Teil der Alltagskultur der USA. Die Baby-Boomer verdankten ihm viel. Diese Generation machte wohl nicht zufällig die Kulturrevolution der 60er Jahre. Es folgten die Psychohistorie mit (deMause 1974) und dann – ganz entscheidend der Feminismus zur Rolle der Mutter (Chodorow 1978). Frühe Vorläuferinnen waren H. Beecher Stowe, Lydia Maria Child und Fanny Fern. Eine Aufarbeitung der Kinder- und Jugenliteratur steht noch aus (Hahn 2015).

Es geht im Alltag jedoch nicht nur um Dominanz. Es geht auch um Gleichheit. Die regionale oder lokale Gruppe erfährt ihren Zusammenhalt durch die Sprache, vor allem den Dialekt. In ihm verkörpert sich lokales Wissen und das vermittelt Solidarität, wie die Diskursanalyse enthüllt (Kress/Hodge 1988). Der alte Quotient von Wissen/Macht, welcher auch Fabel und Komödie seit Aesop und Plautus – der listige Sklave gegen den mächtigen Herrn - strukturiert, wird zur Gleichung: W/M x Solidarität = Handlung. Meist gehen die weniger Mächtigen ein Bündnis ein, der Konflikt wird zum Dreieck, wie im Fall von Klein-Gerda und Ewa. In den anderen Witzen verbündet sich der sozial Unterlegene (der Gemüsehändler, der Arzt, der Opernbesucher) mit seiner Sprachgemeinschaft: er hat zieht die Lacher auf seine Seite. Frauen verschwestern sich. Macht muss nicht nur mit dem Wissen (Wortwitz) der Leute rechnen sondern auch mit deren Solidarität untereinander. Auf der anderen Seite gibt es die Ritter der Tafelrunde: auch die Zitzewitzer schlossen Bündnisse, etwa im Heldenepos. Manchmal machten sie sich lustig über das Volk, die Bauern. Nicht nur Humor ruht auf diesem Dreieck W/M+S. Aber gerade Humor wurde zu einer wichtigen Variante der Sketch-Story in den USA: der Humoreske.

Der Widerspruch von (vorhandener oder fehlender) Solidarität, Wissen und Macht, meist als Konflikt zwischen Klassen, Geschlechtern, Altersgruppen und ethnischen Gruppen, wird uns in klassischen Kurzgeschichten und Sketch-Stories aus den USA entgegen treten. Und zwar in vielen privaten wie öffentlichen Ereignissen, vermittelt durch ebenso viele Erzählweisen, mehr oder weniger explizit, entweder dramatisiert als Szene oder erzählt von einem Beobachter.

In den vier erzählten Witzen wird der Dialog in wörtlicher Rede von einem (kurzen) Erzähltext gerahmt, der sich durch die Hochsprache deutlich von der Sprache in den Dialogen unterscheidet. Er setzt immer schon eine gewisse soziale Kenntnis voraus über Galerien, Seilspringen, Sprechstunden von Professoren oder Sauerkraut. Je mehr der Erzähler weglässt, desto mehr müssen wir beim Lesen ergänzen, im radikalsten Fall fast alles:


(5) Orje: „War machste denn?“
Nante: „Nischt.“
 Orje: „Da mach ich mit.“ ( Baer 1969, 34, 52)


Ohne die Kenntnis, dass Nante ein volkstümlicher Eckensteher Alt-Berlins war, fehlt dem „Nischt“ und dem „Da“ fast jeder soziale Inhalt; nur dass es ums Nichtstun geht bekommen wir mit. Solidarität schon, aber wo bleibt die Macht? Die Zuhörer müssen sie erschließen. Versuchen Sie mal, den fünften Witz in die Liste oben einzutragen. Wir sind schon fast bei Herman Melvilles berühmter Sketch-Story „Bartleby“ angelangt. Oder bei Grace Paleys „The Story Hearer“.

Die extreme soziale Verkürzung – hier um Arbeitsverweigerung und ihre mögliche solidarische Begründung – kann oft über die Typisierung der Figuren aufgefangen werden. Gräfin Zitzewitz (sie gab es wirklich), der Doktor, die Lehrerin, Klein-Gerda oder Nante gehören wie Wortvarianten, Redensarten oder Sprichwörter zum regionalen Dialekt mit dem Stereotyp von der Berliner Schnauze. Diese Typisierung erlaubt einerseits eine aufschlussreiche Geographie des deutschen Witzes (wie es etwa eine aufschlussreiche Regionalgeschichte der us-amerikanischen Kurzgeschichte geben könnte). Da Typen aber wie ethnische Witze auch anderswo Vorurteile berühren, bekommen Witze eine politische Dimension. Das musste z. B. ein berühmter Anglist erfahren als seine Kleine Geographie des deutschen Witzes (1955) den Unwillen des örtlichen Gauleiters erweckte und zu Herbert Schöfflers Entlassung aus dem Dienst führte. Schlagfertigkeit wird nicht aller Ortens geschätzt. Hinter dem so genannten Lokalkolorit (local color) der US-Kurzgeschichten stecken meist politische Machtkonflikte, wie wir sehen werden. Die fünf Figuren- Konstellationen und der Konflikt zwischen Dominanz und Gleichheit in ihnen werden die jeweils gewählten Zeiträume erhellen und die historische Resonanz einzelner Geschichten erklären helfen. Manchmal auch deren zeitweises Verstummen wie am Beipiel von Brown, Melville, Crane, Stein oder Paley.

Witze kann man dehnen bis zur Kurzgeschichte. Solches kann man auch mit Sprichwörtern, Rätseln, Charakterskizzen oder Ortsbeschreibungen machen. Umgekehrt können Witze, Rätsel, Skizzen als Episoden in längere Erzählungen, Biographien oder Romane eingebaut werden und dort die Charakterisierung der Figuren oder Schauplätze differenzieren. All das hat seine literarische Historie.

Es fehlt nur noch ein Schritt zur Sketch Story. Ihre Nobelpreis-Lesung für Literatur eröffnete Toni Morrison 1993 mit einer kurzen Geschichte. Eine Gruppe junger Leute will eine alte weise Frau auf dem Lande bloßstellen, indem sie diese fragen, ob der Vogel, den sie in ihrer Hand halten, tot oder lebendig sei. Die Blinde schweigt. Doch nach der dritten Wiederholung der Frage antwortet sie mit:

„Ich weiß es nicht“, sagte sie. „Ich weiß nicht, ob der Vogel in deiner Hand tot oder lebendig ist, so kannst du ihn immer noch töten. Wenn er am Leben bleiben soll, so ist das deine Entscheidung. Du hast es in der Hand.“ (Morrison 2019, 167)

So etwas nennt man in der Literaturwissenschaft eine „Anekdote“. Sie lässt sich wie folgt definieren:

Indem die A. ihr individuelles Urteil auf zufällige Seiten des Lebens oder außergewöhnlich reagierende Personen und auf einmalige Vorfälle konzentriert, darin aber zugleich typ. Seiten des Lebens offenbart, kann sie an eine Erwartungshaltung anknüpfen, die auf Unterhaltung durch Neuigkeiten gerichtet ist. Als Kunstform setzt sie andererseits beim Produzenten wie Rezipienten produktive Phantasie voraus, die der gradlinig zugespitzten Handlung die überraschende Wendung zu geben bzw. abzugewinnen vermag. Die Pointe der A., in der eine der Logik des geschilderten Vorgangs anscheinend entgegengesetzte Aussage erfolgt, ergibt sich oft aus dem Auseinanderfall von Lesererwartung und beabsichtigter Wirkung. (Träger 1987)

Morrisons Anekdote erfüllt offensichtlich die Kriterien: zufällig / außergewöhnlich, Erwartungshaltung /überraschende Wendung und Pointe. Es fehlten noch die „typischen Seiten des Lebens“ die Anwendung auf die Situation der Nobelpreis-Verleihung im Jahr 1993. Morrison liefert das nach, indem sie den Vogel als Sprache, die weise Frau alsAutorin deutet: Schriftsteller:innen tragen eine besondere gesellschafltiche Verantwortung, weil sie auf den Gebrauch der Sprache, die Beziehung zwischen Sprache und Macht hinweisen. Was sie mit ihrer Rede auch tut: sie verallgemeinert die Anekdote zur Gleichniserzählung, mit Parabel, Fabel, Kasus oder Memorabile als Varianten (variant type). Die Anekdote ist vielfach variabel. Eine Fabel von Aesop (C6 v.u.Z.) zur Verdeutlichung:


A Kid was perched up on the top of a house, and looking down saw a Wolf passing under him. Immediately he began to revile and attack his enemy. 'Murderer and thief,' he cried, 'what do you here near honest folks' houses? How dare you make an appearance where your vile deeds are known?'

'Curse away, my young friend,' said the Wolf.

'It is easy to be brave from a safe distance.'

Es ist leicht, die Analogie zu Toni Morrison zu erkennen. Die überraschende Wendung, die Pointe, die typische Seite des Lebens wird vom Menschen auf die Mensch-Tier (oder Tier-Tier) Interaktion übertragen. Bei Morrison dominiert die menschliche Interaktion, der Vogel ist nur Objekt. Es handelt sich um eine Parabel. Anekdoten („Geschichtchen“) lassen sich durch Deskription erweitern.

Morrison tut das wie folgt: sie fügt kurze Beschreibungen der Situation hinzu (in einem kleinen Haus außerhalb des Ortes), charakterisiert die alte, weise Frau (eine Tochter von Sklaven, ihr Ruf als Wissende, ihre Nachbarschaft usw.) und ihre jungen Gegenspieler durch eine Szene (Eines Tages, sie stehen vor ihr, ihre Stimme ist leise und ernst). CASE. Dazu gehört die gesellschaftliche Situation, welche Stadt von Land teilt: Nachbarschaft, Stadt, Itelligenz, ländliche Propheten. Die Anekote wird zu einer „Geschichte,“ erweiterbar bis hin zum Roman (Das Urteil).

Halten wir fest: eine gemeinsame Wurzel von Witzen und Kurzgeschichten ist die Anekdote – ein Schlüsselbegriff – und Anekdoten gehen auf (legendäre) Sprüche berühmter Persönlichkeiten zurück. (Hat Robert Koch das wirklich einmal gesagt?) Ein lokaler oder momentaner Vorfall wird zu einer „typischen Seite des Lebens“, der menschlichen Interaktion gemacht und damit zu einem „Geschehen“, zur „Geschichte“. Da „Geschichte“ im Deutsche mehrdeutig ist, benutze ich im folgenden den Begriff „Narrativ“ für „Erzählung“ oder „Geschichte“. Die erste ist mündlich, die zweite schriftlich. Nicht-fiktive Narrative der Vergangenheit nenne ich „Historie. (Das schließt Geschichtsdrama wie das von Shakespeare aus). Genug der Definitionen.

Ich habe mit Morrisons Rede als Parabel auf die Verantwortung von Literatur für Sprache ein „Predigtmärlein“ (Schweikle/Schweikle) verwendet, um auf die Historie der Sketch-Story vorzubereiten. Mein Ziel ist es, an Lydia Child, Herman Melville, Mark Twain, Gertrude Stein, Ernest Hemingway oder Grace Paley zu überprüfen, in wie weit Sketch-Stories in den USA dieser historischen Verantwortung nach kommen oder nicht.

Im folgenden werde ich die Geschichte der geschriebenen Kurzprosa in den USA in acht Kapiteln abhandeln: die Vorläufer des Erzählens in Europa, die kolonialen Anfänge einer erzählenden Kurzprosa bis zum 18. Jahrhundert, die massenhafte Verbreitung von Kurzprosa und deren Differenzierung in verschiedene Typen im C19 (Kap. 4 bis 6.) und schließlich die Modernisierung von Kurzgeschichte und Skizze im C20 und C21. Zitiert wird bis zu Hemingway und Faulkner aus dem Netz (archive.org oder gutenberg.org). Für die Zeit nach 1950 finden sich viele Texte bei scribd.com. Seitenzahlen entfallen also.


DIESE EINLEITUNG WIRD LAUFEND AKTUALISIERT




 AUS Kap. 1

 

This is a piece illustrating the changes in description and narration when writers move from myth to legend, a process of rationalisation (M. Weber) to move the audience/public from belief to wonder:


Aelianus:


anderer Erzähler schrieb mehr als 100 Jahre später, um 150 v.u.Z. diesmal in Prosa und fast ohne Rückkoppelung an Folklore und Brauchtum: Claudius Aelianus, Sophist, Schriftsteller und Oberpriester. In Varia Historia mischte er frei Geschichte mit Erzählungen, Sagen mit Geschichten, Fakten mit Fiktion, ein früher Vorläufer von „Tales and sketches“ , wie sie im C19 in den USA so beliebt werden sollten. Unter Anderem verdeutlichen die 14 Bände (am Beispiel des Alexander) den langen Weg von Anekdoten über Legenden bis hin zur Vergöttlichung, zum Mythos.

Aelianus erzählte noch einmal eine Episode aus einer alten Heldin-Sage von der furchtlosen Jägerin Atalanta. Er schildert in drei Teilen: Kindheit, ihren Wohnort und Charakter, schließlich, abrupt, die Tötung von zwei Freiern. Kindheit und Tötung werden narrativ dargeboten. Eine Dreiteilung ist nach der Poetik von Aristoteles der Grundplan für alle Geschichten. Der beschreibende Mittelteil ist deskriptiv und doppelt so lang wie Anfang und Ende. Der Übergang von Göttersagen zur Heldensage zeigt sich in allen drei Teilen, aber unterschiedlich.

Atlanta wurde ausgesetzt (weil ihr Vater nur Söhne haben wollte) und von einer Bärin, die ihre Jungen an Jäger verloren hatte, gestillt. Dieses wunderbare Element wird doppelt motiviert: „durch göttliche Fügung“ und „so erleichterte sich das Tier gleichzeitig seine Schmerzen, während es dem Säugling Nahrung reichte.“ (Schroeder 2008, 458-461). Zu Atalantas Charakterisierung fügt der Erzähler zwei weitere übernatürliche Beziehungen ein: sie will Jungfrau bleiben nach dem Vorbild von Artemis, der jungfräulichen Jagdgöttin und der Tochter von Zeus. ( In früheren Versionen wäre Artemis noch ihre Schutzgöttin gewesen. Andere Versionen lassen vermuten, Atlanta sei nur eine lokal vermenschlichte Variante von Artemis. In einer späteren Episode der Sage verliert Atalanta beim Wettlauf mit einem Jüngling, welcher die Unterstützung von Aphrodite hat: seine drei goldenen Äpfel verführen sie zum Aufheben der Äpfel, mythisches Symbol der Verführung). Amor vincit omnia. Das Patriarchat setzt sich durch und korrigiert die feministische Version. Bei Aelian heißt es nur

Sie konnte sehr schnell laufen, und kein Tier entging ihr, und auch kein Mensch … Gleich einem Stern vorüberhuschend, leuchtete sie auf wie ein Blitz, dann verbarg ein Eichenwald, dichtes Buschwerk, oder sonst ein Dickicht auf dem Berge ihren Lauf.

Wunderbare Momente, noch deutlich mit meteorologischen Spuren. Füße und aufrechter Gang spielen in der griechischen Mythologie (und nicht nur dort) eine wichtige Rolle (Lévi-Strauss 1969, gezeigt am Ödipus Mythos): als Kinder wiederholen wir die Evolutionsgeschichte der Menschen. Hawthorne erzählte in Tanglewood Tales (1853) die wundersame Geschichte von Atalanta für Kinder und legte dabei besonderes Gewicht auf ihre leichten Füße, sie machte sich ihre Sandalen nicht nass, eine puritanische Note. (Sie ist ziugleich Feministin).

Den beschreibenden Mittelteil leitet Aelian oder der Erzähler besonders hervor:

Was sollte uns hindern, von Atalantes Grotte zu hören, wie bei Homer von der Grotte der Kalypso? In einer hohlen Schlucht war eine sehr große und tiefe Höhle. Ihre Vorderseite war durch einen schroffen Felsabhang gesichert. Efeu wucherte um die Höhle, und seine Ranken, zart mit den Bäumen verflochten wanden sich an ihnen empor. Krokusse wuchsen ringsum im weichen, tiefen Grase. Lorbeer, Eiche …

Nach diesen lieblichen Anblicken folgt die Beschreibung von Atalanta:

Nun will ich, wenn nichts dagegen spricht, ihr Aussehen beschreiben. Doch es spricht nichts dagegen, zumal daraus meine Darstellung auch an Gewandtheit und Kunst gewinnen dürfte. An Größe überragte Atalante schon als Kind erwachsene Frauen. Schön war sie wie damals kein anderes junges Mädchen auf der Peloponnes. Ihr Blick hatte etwas Männliches und Wildes. Das kam einerseits davon, daß sie von einem Tier genährt worden war Ihr Haar war blond, nicht durch mühsame weibliche Pflege und mit künstlichen Mitteln gefärbt, nein die Farbe war das Werk der Natur. Purpurn war von den Strahlen der Sonne ihr Antlitz, geradezu wie von Schamröte übergossen.

Dann kommt die knappe Erzählung: zwei übermütige Kentauren aus der Nachbarschaft wollen ihr „huldigen“ mit einem nächtlichen „Umzug“, wobei sie Fackeln - ausgerissene Fichten die sie in Brand gesteckt hatten - schwenken:

Sie hatten frische Tannenzweige abgebrochen und sich daraus Kränze geflochten. Pausenlos mit den Waffen rasselnd, zogen sie durch die Berge hin, entzündeten dabei die Bäume und eilten zu dem Mädchen – schlechte Freier, die in Übermut und Raserei ihre Hochzeitsgeschenke verfrüht darbrachten.

Atalanta streckt sie mit zwei Pfeilen nieder. „Soviel über Iasons Tochter Atalante.“ schließt die Erzählung, sehr ähnlich den modernen Sketch-Stories. Wo liegen die Unterschiede?

Bei Aelian handelte es sich um um ein erneutes Aufschreiben einer mündlichen Erzählung. (Er sprach fließend Griechisch). Die Spuren mündlichen Erzählens ruhen in den wunderbaren Elementen und vor allem in den beschreibenden Teilen. Beschreibung ist hier keine Skizze, sondern ein rhetorisches Versatzstück mündlicher Erzähler. Prototypen finden sich in den Epen Homers. Solche glänzenden Einlagen waren offensichtlich zur Ausmalung der Helden und zugleich als besonderer Effekt (Abwechslung, Stimulierung der visuellen Fantasie, Bewunderung) für das Publikum gedacht. Wahrscheinlich änderte sich der Vortragston und die Rhythmik bei diesen Einlagen.

Doch in der schriftlichen Bearbeitung werden diese Versatzstücke viel sorgfältiger in die Handlung eingebettet. Es sind arkadische Berge mit Fichten und Eichen und Lorbeer. Atalanta kleidet sich „mit einem kunstlosen Gewand, nicht anders als das der Artemis“, ihr Angesicht ist purpurn und strahlt wie die Sonne. Die Kentauren setzen sich Kränze auf aus Fichtenzweigen für ihren Umzug, ganz ohne Flötenspielerinnen, „schlechte Freier, die in Übermut und Raserei ihre Hochzeitsgeschenke verfrüht darbrachten.“ (Schroeder 2008, 461)

Heute würden manche diese Elemente symbolisch lesen (freudianisch oder archetypisch, Höhle und Quelle gegen Fichte und Feuer), aber für das römische Publikum waren die rituellen Elemente offensichtlicher. Hinter Atalanta steht mythisch Artemis (der sie nacheifert), und hinter der Raserei der Kentauren dionysische Hochzeitsumzüge. Hinter beiden Lesarten steht die patriarchalische Unterwerfung von jungen Frauen unter das Joch der griechischen und römischen Ehe (Bornemann 1975, 143-509). Die Heldin-Sage von Atalante ist vielleicht eine spätere Variante der Göttersage von Artemis, wie die spätere Legende vom Wettlauf, bei dem Atalante ihre Jungfräulichkeit um drei goldene Äpfel verliert, wohl eine patriarchalische Widerlegung der Kentauren-Episode sein könnte. In einer dritten Variante der Sage werden sie und ihr Ehemann von Göttern bestraft, weil sie ihren Geschlechtsverkehr an einem Heiligtum des Zeus vollziehen. Zeus war der Vater von Artemis - in Griechenland die populärste aller Göttinnen – und Herr aller Götter und Göttinnen, ein Patriarch (Holzapfel 2007).

Hinter den Mythen stehen so oft Rituale, welche als bei dem Publikum bekannt vorausgesetzt werden und nur als Lücken oder Anspielungen im Text auftauchen (Lévi-Strauss 1993, 207-11). Wir werden sehen, dass auch Sketch-Stories in den USA eine auffällige Vorliebe für Sitten und Gebräuche haben, und dass Weihnachten (Irving), Thanksgiving (Hawthorne) oder der der Unabhängigkeitstag (Melville) beliebte Feiertage im Hintergrund von Geschichten werden sollten. Rituale schaffen für Alltagsgeschichten eine ebenso breite Resonanz wie für Götter- und Heldensagen.

Doch der erzählerische Teil – Brautzeit als Vergewaltigung und weiblicher Widerstand – trägt mehr das Wahrscheinliche für das zeitgenössische Publikum. Der beschreibende Teil fügt die Mythen als Zeichen und Wunder als Legitimierung hinzu. Rituale schaffen so universale Symbole für menschlicher Beziehungen und verarbeiten psychische Konflikte in ihnen in konservativer Absicht  (Fromm 1957, 23-25). Atalante verkörpert nicht nur Konflikte bei Gender und Ethnizität (Kentauren sind Tiermenschen), sondern auch zwischen einer jungen Jägerin und ihren Feinden: Atalante bewässert hier den Wein vor ihrer Höhle und schützt die Natur vor Nomaden und Feuer. CAGE (Class-Age-Gender-Ethnic). 

Kurz, die Geschichte dramatisiert den weiblichen Kampf gegen die Dominanz der Männer, gegen das Patriarchat. Der Sieg schließlich des Patriarchat über das Matriarchat charakterisiert sowohl die griechische wie die römische Gesellschaft und Kultur. Auch Schöpfungsmythen oder der Vater-Sohn Konflikt in der Ödipus-Geschichte lassen sich so lesen. Wie wir bald bei den indianischen Mythen Nordamerikas sehen werden verhüllt das sorgfältige Zusammenspiel von Beschreibung und Erzählung weitere Ebenen der Mythologie. Bei der Analyse eines indianischen Mythos aus Nordamerika (Kap. 2) werden wir darauf zurückkommen.


Eine Seite über Lukian folgt hier:


„Die wahre Geschichte“ von Lukian (125-80) illustriert sehr gut das Verhältnis von Schema, Prototyp und Parodie (Karrer 1977). Diese Geschichte gilt einerseits als die erste große Lügengeschichte, andererseits als ein Vorbild für die „fantastische Reise“, welches viele Nachahmer gefunden hat: Rabelais, Swift, Voltaire, Diderot, Wieland … D. Barthelme, J. Barth ... Sie ist zugleich eine Parodie auf die beiden Epen Ilias und Odyssee, nebst ihren zahllosen Nachahmern. Das erste beschreibt bekanntlich viele Schlachtszenen, das zweite erzählt von den Abenteuern des Odysseus. So teilt Lukian seine Geschichte, die er eingangs ausdrücklich als Lüge bezeichnet hat – aber wer glaubt schon einem Kreter, der lügt - in zwei Teile. Der erste handelt vom Krieg der Sonne gegen die Mondbewohner, dabei wimmelt es nur so von ausführlichen Schlachtgemälden. Ausführlich werden die Truppen (Mückenreiter, Pferdegeier, Kohlvögel), ihre Aufstellung, Flügeltaktiken usw. beschrieben. Auf dem Weg zur Sonne sehen sie auch die Erde unter sich: sie ist rund. Anschließend beginnt eine lange Wasserreise, welche mit einem Krieg in einem Walfischbauche einsetzt. Wieder Gemetzel und Heldentaten, diesmal mit einer Schlacht zu See. Der zweite Teil parodiert eher die Odyssee. Der Erzähler und seine Begleiter brechen aus dem Wal aus und besuchen eine Insel nach der anderen. Ein wundersames Abenteuer - in immer schnellerem Rhythmus – folgt auf das andere: Krebshänder, Thunfisch-Schädler, Schollenfüßler, Kürbispiraten, Phallussegler ... Nach der Insel der Calypso, dem Korkland (die Bewohner können auf dem Wasser laufen!), kommen sie zu der Insel der Seligen, den elysischen Feldern. Der Erzähler schwelgt in Beschreibungen von Stadt und Land. Sie nähern sich der Insel:

Eine weiche süßatmende Luft war über dieses schöne Land ausgegossen, wohllüstige Zephyretten schienen herumzuflattern und den Hain zu durchsäuseln, und aus den sanftbewegten Zweigen tönte ein immerwährendes melodisches Flüstern, gleich dem Getöne, das an einem einsamen Orte aufgehangene Rohrpfeifen von sich geben. Mitunter hörte man auch ein lauteres Getön vermischter Stimmen, aber nicht lärmend, sondern demjenigen ähnlich, das fernher von einem Gastmahl kommt ...

Sie werden mit Rosenketten gefesselt und in die Stadt geführt:

Die ganze Stadt ist von gediegenem Golde und ihre Ringmauren von Smaragden. Jede ihrer sieben Tore ist aus einem einzigen Zimtbaum gearbeitet; der ganze Boden der Stadt, und das Pflaster aller Plätze und Gassen in derselben, ist von Elfenbein; die Tempel aller Götter sind aus Quaderstücken von Beryll erbaut und die Hochaltäre, worauf die Hekatomben geopfert werden aus einem einzigen Amethyst. Rings um die Stadt fließt ein Strom des schönsten Rosenöls …

Dann gelangen sie zu den Champs Élysées:

… es ist eine wunderschöne Wiese, ringsum mit dichtem Wald von allerlei hohen Bäumen umgeben, die ihre Schatten auf die zu Tische Liegenden werfen. Sie liegen statt der Decken auf Blumen und werden von Zephyren bedient, die ihen alles bringen, was sie verlangen, außer dass sie ihnen keinen Wein einschenken. Die Ursache davon ist, weil dicht an dem Platze, wo sie speisen, große gläserne Bäume vom reinstem durchsichtigen Glase stehen, die, statt der Früchte,Trinkgefäße von allen Formen und Größen tragen. ...

Sie enthalten natürlich unerschöpflichen Wein. Dort sitzen Homer, Odysseus, Anakreon und viele andere mehr neben zwei Quellen, die der Wohllust und des Lachens. In den drei vorgeführten Zitaten werden die rhetorischen Muster der Elocutio vorgeführt: der ornatus, die Figuren der Wiederholung und Häufung, der copia rerum und copia verborum, der Satzbau und die Belastung des Satzendes (Compositio) usw. Kurz, Lukian legt auch stilistisch das Schema des Preisens durch Mechanisierung offen: der locus amoenus bei Theokrit oder Anakreon ist ein spezieller Effekt, welcher an die Sinnenlust der Zuhörer apelliert: Essen, Trinken, Sexualität, Reichtum im Überfluss. Alles ohne Arbeit, auch im Himmel herrscht Sklavenwirtschaft.

Der Prototyp ist das Paradies, eine „Wunschlandschaft“ (Bloch 1973), welche alle Sinne befriedigt; das unterlegte Schema ist das der Fülle mit Variation der Dinge und Wirkungen. Aus dem selben rhetorischen Schema lassen sich verschiedene Prototypen ableiten: der Paradiesgarten der Bibel oder des Korans, oder später (mathematisiert) Die 120 Tage von Sodom. Stilistisch ist „Die wahre Geschichte“ eher ein Pastiche: sie mechanisiert die Beschreibungen von Idyllen und Schlachten.

Es wird zugleich deutlich, was Lukian auf der Satzebene offenlegt, gilt auch für die Abenteuer des Odysseus. Der Serie seiner Insel- und Küstenabenteuer, welche kunstvoll variabel Piraten, Kannibalen, Riesen mit verführerischen Zauberinnen, Sirenen oder einer unschuldigen Köningstochter mischt, unterliegt ein einfaches Schema der Interaktion mit einem Anderen (O >< X) mit Ortswechsel nach jedem Abenteuer (Xn). Lukian mechanisiert das serielle Verfertigen von wundersamen Abenteuer, indem er ein kräftiges Potpuorri aus allerlei Legenden anrührt: er beginnt mit der Entdeckung eines Weinlandes westlich des Atlantiks und steigert sich allmählich ins All, Paradies und Hölle, kombiniert Tier- und Pflanzenteile mit menschlichen Körpern, häuft Zeichen und Wunder an jeder Stelle an und beschleunigt die Ortswechsel gegen Ende, was dazu führt, dass er weitere Bände der Abenteuerserie ankündigt … Trotzdem blieb die Odyssey-Prototyp unzähliger Nachahmungen und Parodien von den Ritterepen des Mittelalters und Don Quijote der Renaissance über Moby-Dick bis hin zu Lost in the Funhouse. Und Star-Trek.

Verallgemeinern wir. Das Abenteuer-Schema ist Teil eines noch allgemeineren Schemas mit seriellen Orts- und Interaktions-Wechseln: des Reiseschemas. Aus diesem lassen sich beliebig viele Prototypen ableiten: zur See, zu Land, zur Luft, im All … mit Schiffen, Kamelen, Ballons, Raumschiffen und Inseln, Wüsten, Kontinenten, Planeten und wechselndem Personal und ihren Gegnern wie Piraten, Scheichen, Mückenreitern usw. Dahinter steckt ein Prototyp-Prinzip der Semantik: es scheint eine Hierarchie der Allgemeingültigkeit zu geben:

… oben eine sehr weit gefaßte begriffliche Kategorie, zuunterst eine sehr unscheinbares, in Raum und Zeit lokalisiertes Einzelding. Indes ist die Vorstellung, eine Klasse müsse immer enorm breit und abstrakt sein, viel zu eng. Der Grund dafür ist, dass user Denken sich eines sinnreichen Prinzips bedient, das man das Prototyp- Prinzip nennen könnte:

Das spezifischste Ereignis kann als allgemeines  Muster einer Klasse von Ereignissen dienen.

(Hofstadter 1985, 377)

Dieses in der neueren Semantiktheorie verfeinerte Prinzip hat einerseits philosophische Vorläufer (Lukács 1967, 339-66; Lakoff/Johnson 2003, 122-25), andererseits schafft es Verbindungen zur modernen Neurologie und Informatik (Lusti 1990, 212-26). In früheren Varianten bestimmt es auch die Kunstgeschichte von E. H. Gombrich (Schema und Korrektur in 1977, 135-52) oder die Ikonologie von E. Panofsky (1980, 40-47). Die Idee der Typenhierarchie (Lukács, 361) oder von „Mustervergleich“ (Lusti, 218) scheint mir anaylytischer als der herkömmliche Begriff „Genre.“ Ich nehme im folgenden weiter an, dass konkrete Prototypen wie Ulysses und das Reise-Schema, welches durch Mechanisierung in „Die wahre Geschichte“ offengelegt wird, in unserem Lesen interagieren. Je mehr wir lesen, desto deutlicher wird das Schema, aber die Beziehungen zwischen Allgemeinen und Besonderen sind zu komplex, um im einzelnen immer begrifflich zu unterscheiden. Lukina wurde unterdrückt, Homer sakralisiert.

„Undine“ ist ein Prototyp, er geht auf „Melusine“ zurück. Poe’s „Ligeia“ auf „Undine“. Seine Ausführungen dazu in Marginalia sind sehr scharfsinnig. Hinter allen drei Varianten steht dasselbe Schema: die männliche Partnerwahl zwischen Frauen. Lydia Maria Child’s "The Children of Mount Ida" ist eine feministische Antwort auf das Schema. Frauen und Männer sind gleich. Doch „Ligeia“ wurde Prototyp, Child’s Antwort unterdrückt. Das Paris-Schema dominiert bis heute.

Ob eine Variante zum Prototyp einer neuen Art wird hängt von der Umwelt, sprich der Gesellschaft, in der sie entsteht, ab. Homers Epen entstanden zu der Zeit, als die Griechen begannen, die Phönizier als beherrschende Seefahrer im östlichen Mittelalter abzulösen. Ihre Eroberung der Dardanellen bereitete die Kolonisierung des Schwarzmeers vor, wo sie Gold vermuteten. Sie verarbeiteten diese Ereignisse als die Legende von Troia (mit mythischen Einschlägen) und den Argonautenzug. Die zahlreichen Seeabenteuer reflektierten die Risiken des Fernhandels und die Konkurrenz im Kampf um die Vorherrschaft im Mittelmeer (Braudel 1986). Odysseus war Sklavenhalter und Pirat zugleich. Seine Reisen (und Lukians Parodien) nehmen die Reisen des Marco Polo (1972) und die christlichen Kreuzzüge vorweg. Das Reise-Schema der wechselnden Ort blieb auch ein Rückrat der Sketch-Stories in den USA von Irving bis Barth. Es enthält immer koloniale Spuren, Dominanz. Innocents Abroad (1869) und The American Scene (1907) reflektierten eine Umwelt, in der sich die USA zu dekolonisieren und England das zu verhindern suchte. Die Prototypen setzten die Gewinner.


AUS KAP. 2. :


Der Besiedlung gingen Entdeckung und Eroberung voraus, finanziert von der englischen Krone oder Londoner Überseehändler, die sich Merchant Adventurers nannten. Alle vier Tätigkeiten brachten zahlreiche Erzählungen hervor. Meist blieben sie nur in Handschriften erhalten. Einiges davon war Herrschaftswissen. Anderes war öffentliche Werbung. Die Beschreibung der unbekannten Küsten und Landschaften – die kognitive Funktion – die Unterwerfung der Eingeborenen – die militärische Funktion – und die Besiedlung – die eigentlich koloniale Funktion – vermischten sich. Eroberer trat als Kundschafter auf, teils als Siedler. Hinzu kam die Finanzierung der Kolonisierung durch Fernhändler oder die Krone: ein hohes Risiko auf See und zu Land. Immer ging es um Macht. Die USA entstand aus einer Siedlerkolonie. (Morris, 19-28)

Hier eine wahre „Relation“ (1608) über die Entdeckung eines Flusses, der heute „James River“ heißt. Er fließt durch das heutige „Virginia“, war von indianischen Dörfern dicht besiedelt.


The two and twenty day of Aprill 1 [1607] Captain Newport and myfelfe with diuers others, to the number of twenty two perfons, fet forward to difcouer the Riuer, fome fiftie or fixtie miles, finding it in fome places broader, & in fome narrower, the Countrie (for the mofte part) on each fide plaine high ground, with many frefh Springes, the people in all places kindely entreating vs, daunting and feaiting vs with ftrawberies, Mulberies, Bread, Fifh, and other their Countrie prouifions wherof we had plenty: for which Captaine Newport kindely requited their leaft fauours, with Bels, Pinnes, Needles, beades or GlalTes, which fo ' contented them that his liberallitie made them follow vs from place to place, and euer kindely to refpedt vs. …


Dies schrieb Captain John Smith für sein englisches Publikum. Dieses frühe Genre Relation (Bericht) setzte Beschreibung und Erzählung in direkte Beziehung zu Interessen des Publikums. Hier wird Erzählung als Abenteuer eingekleidet: eine Fahrt ins Unbekannte. Vier „wilde Waldmenschen“ (savages) kommen an Bord und zeigen ihnen Nebenflüsse und Wege stromaufwärts. Die Beschreibung legt die Interessen der Entdecker offen: der Fluss ist schiffbar, verbreitert sich zu Ankerplätzen, das Land rundum wirkt fruchtbar, es enthält viel Frischwasser, der Fluss wird dies alles für transatlantische Schiffe öffnen. Die Eingeborenen sind friedlich, und der Handel mit Glöckchen, Glasperlen und Nadeln macht sie willig, dem Schiff zu folgen etc.

Mit anderen Worten, dieser Fluss ist leicht zu erobern. Die frühen Siedler müssen nicht verhungern. Der Fluss ist zugleich eine Einfallspforte für die Eroberung des Hinterlandes.

Der englische Poet Michael Drayton übersetzte das in ein Pastoralgedicht:


Virginia,
Earth’s only paradise.
Where nature hath in store
Fowl, venison, and fish,
And the fruitfull’st soil
Without your toil
Three harvests more,
All greater than you wish …
(„To the Virginian Voyage“)


Antike Prototypen (Hesiod, Theokrit, Vergil) mussten herhalten, um Kolonisten zu überreden, in Nordamerika zu siedeln (Williams 1975, 35). „Without your toil“ winkte mit Muße: im August 1619 landete das erste Slavenschiff in Virginia. Das war der Anfang der Sklaverei in den englischen Kolonien. Das Pastorale sollte so wie später (als „grüne Sprache“ bei der romantischen Darstellung) die wirkliche, harte Landarbeit verdecken (Williams 1974, 158-75). Das alles im Namen der „jungfräulichen“ Königin in London.

Etwas nüchterner beschrieb es der erste Gouverneur der Plymouth Kolonie: „They … found diverse cornfeilds, & little runing brooks, place (as they supposed) fitt for situation.“ W. Bradford meinte mit situation noch „Besetzung“, ein Erstbeleg im englischen (OED 5.b; heute obsolet). „Situation“ wird ein Schlüsselwort in unserer Analyse von Skizzen werden, im modernen Sinne von: Position einer Person, Lage, Zusammentreffen von Umständen (Bedeutungen 6, 8 und 9). Zugleich zeichnete Bradford die ersten Siedler als legendäre Pilger der Mayflower auf der Suche nach einer neuen Gesellschaftsform (1620).

NACHTRAG: Aus der Historie der Indianer in Nordamerika (Debo 1970, 39-43) lernen wir, dass die Jamestown Siedlung von Smith einem Verwalter, namens Hunt, überlassen wurde, der bald einen Indianer, Squanto getauft, zum Sklaven machte und ihn nach England verschiffte. Squanto kam zurück und wurde wenig später der erste Dolmetscher für die puritanischen Siedler am Plymouth Rock.


Cotton Mather

Etwa zeitgleich mit den ersten Periodika, welche Neuigkeiten aus England und der Welt brachten, veröffentlichte Cotton Mather, der mächtigste Geistliche aus Boston, eine Sammlung von seltsamen Ereignissen unter dem Titel The Wonders of the Invisible World (1692). In ihr taucht als Einleitung eine der ersten gedruckten Geistergeschichten aus den Kolonien auf, das wundersame Ereignis, in dem einem Mann in Boston sein Bruder in London erscheint, zu genau demselben Zeitpunkt, in welchem dieser in London ermordet wird. Ort und Zeit werden genau angegeben, die Umstände wie Kleidung, Wundmal, Mordwaffe, Zeugen beschrieben, und die Wahrhaftigkeit der „Erscheinung“ wird ein Monat später „by common means of Communication“, also den neuen Zeitungen bestätigt. Mather selbst fügt noch eine weitere Bestätigung und die Quelle dieses Berichts hinten an. Wunderbare Koinzidenz soll Kausalität suggerieren. Charles Brockden Brown oder Poe hätte es nicht besser machen können.

Politisch schließt Mather dann weitere Zeugnisse über seltsame Ereignisse aus der Gemeinde Salem (Abkürzung für Jerusalem) an, welche die Anklage einer Reihe von Frauen und Mädchen als Hexen unter satanischem Einfluss stützen sollen. Die Zeugnisse werden zwar wie in einem ordentlichen Gerichtsverfahren abgewogen, aber deutlich wird auch, wie persönliche und finanzielle Verhältnisse in der Kleinstadt das Verfahren bestimmten. Patriarchat und lokale Grundstücksverhältnisse spielten eine Rolle.

Es war eine Zeit, zu der die schwindende Kontrolle über die Gemeinden sichtbar wurde (die jungen Mädchen z. B. tanzten nachts). So griffen Prediger wie Mather zu Aberglauben und Dämonenfurcht, um ihre Autorität zu retten. „Geister-Evidenz“ wurde zugelassen. Insbesondere die Typen der Verhexungen (maleficia) sollten lange noch in den Geister- und Horrorgeschichten des 19c nachwirken: der böse Blick, Wahnsinn, schwarze Katzen, Kräuter, Karbunkel usw. Ohne Angst keine Religion, so Mather wörtlich. Angst sollte auch in den USA dem Erhalt von politischer Macht dienen.

Cotton Mathers Hauptwerk Magnalia Christi Americana (1702) warb für die großen Errungenschaften der puritanischen Kirchen in Amerika, verkörpert durch ihre Geistlichen. Sie waren Pilger Gottes (peregrini). (Der gelehrte Mather zitiert neben vielen anderen auch Lukian) Die Pilgerväter wurden zu Gründern Neuenglands. Mather pries die Siedlerkolonien um Boston herum als einen patriarchalischen „Gottes-Staat“. Da der Puritanismus bis heute die Kultur der USA nachhaltig prägt – durch die fundamentalistischen Kirchen – lohnt es sich, detaillierter auf einige Wurzeln der Sketch-Story in den den sieben Büchern der Magnalia einzugehen.

Americana“ ist eine davon. Mather versuchte hier, puritanische Legenden für dieses neue „Amerika“ zu schaffen. Er macht das typologisch durch Analogien zum Alten und Neuen Testament. Die Pilger sind aus Europa ausgezogen wie das Volk Israel, sie sind das auserwählte Volk Gottes und sie stehen unter einem besonderen Vertrag mit ihm (covenant). Mather preist sie:


Amongst all that have suffered for and searched into these truths, they of New-England justly deserve and will have a name and a glory, as long as the earth shall have any remembrance of an English nation. After-ages will honour them for that great and high adventure of theirs in transporting themselves, their wives and little ones, upon the rude waves of the vast ocean into a remote, desolate and howling wilderness, and there encountring by faith and patience with a world of temptations and streights and pressing wants and difficulties .... (V, iv)


Der aufsteigende Nationalismus „einer englischen Nation“ gründet auf der Bibel. Zugleich auf Rassismus und Ungleichheit. Auf den Abenteuer-Einsatz (der an die merchant adventurers aus London erinnert) folgt das biblische Wort „howling wilderness“. Diese sogenannte „Wildnis“ enthielt zahlreiche urbane Zentren von Indianern, nicht in Mittelamerika und dem heutigen Mexiko, sondern auch am Mississippi-Fluss und seinen Zubringern. Zwischen der Mississippi Mündung und dem heutigen St. Louis (damals Cahokia) gab es zahlreiche städtische und dörfliche Siedlungen, welche in Kontakt mit den Hochkulturen Mexikos hielten (Mais-Anbau, Pyramidenbau, sprachliche und rituelle Entlehnungen). Sie nannten ihr Land „Turtle Island“ (Schildkröteninsel). Die linguistischen Familien der Sioux vermittelten Kultur der sog. „fünf zivilisierten Stämme“ im Süden bis in den Irokesenbund und die algonkische Sprachgruppe im Norden. (Morris, Karte). Einige von ihnen hatten ihre eigenen Karten und eine schriftliche Literatur, welche ihre Geschichte bis in das 5c zurückführte. (Brotherston 1992, Kap. 1 und 7, Tafel 16a). Diese Geschichte der urbanen Kulturen in Nordamerika musste unterdrückt werden. Denn Gott hatte die Puritaner zur Prüfung ihres Glaubens in diese Wildnis geschickt. „Heulend“ diskriminierte die Gesänge und Tänze der Ureinwohner Nordamerikas. Zugleich wird eine typologische Parallele zur Versuchung von Christus in der Wüste gezogen:


It is written concerning our Lord Jesus Christ, "that he was led
 
into the wilderness to be tempted of the devil;" and the people of the Lord
Jesus Christ, "led into the wilderness" of New-England, have not only
met with a continual temptation of the devil there - the wilderness having
always had serpents in it - but also they have had, in almost every new
lustre of years, a new assault of extraordinary temptation upon them; a
 more than common "hour and power of darkness.“ 
(VII, i)


Die Typologie fügt zusammen: die Ureinwohner sind die Teufel. Unter ihnen auch Schlangen, wie im Paradies, also auch andere Versuchungen (der Frauenmangel in den Kolonien). Das Jesus Zitat (Lk 22:53) verdoppelt diese Analogie durch den Garten Gethsemane (der wiederum typologisch dem Paradies im AT entspricht). Das Überleben in der Wildnis (deliverance) wird fest zum Zeichen für ein auserwähltes Volk. 1970 veröffentlichte der Südstaaten-Poet James Dickey einen typologischen Abenteuerroman, betitelt Deliverance. Zur Zeit des Vietnamkrieges.

Die Parallele zu Israel geht noch weiter. Boston und dann Neuengland werden militant zur heiligen Burgfestung Jerusalems:


Once more, how many women have been made a prey to those brutish men that are skilful to destroy? How many a fearful thing has been suffered by the fearful sex, from those men that one would fear as devils, rather than men? Let the daughters of our Zion think with themselves what it would be for fierce Indians to break into their houses, and brain their husbands and their children before their eyes, and lead them away a long journey into the woods, and if they began to fail and faint in the journey, then for a tawny salvage to come with hell-fire in his eyes, and cut 'em down with his hatchet; or, if they could miraculously hold out, then for some filthy and ugly squaws, to become their insolent mistresses, and insolently to abuse them at their pleasure a thousand inexpressible ways; … (VII, App.)


„Our Zion“ ist Neuengland, die biblischen Töchter (!) Zions sind die puritanischen Mütter in den Siedlungen. Die Frauen werden von den tierischen Fremden entführt und vergewaltigt. Nationalismus, Patriarchalismus und Rassimus greifen nahtlos ineinander. Nicht nur in der Sklaverei, auch im Puritanismus liegt eine der Wurzeln des Rassismus, dessen Ausläufer die USA bis heute schwer belastet. Dessen Ursprung liegt in der gewaltsamen Kolonisation und dem entstehenden kapitalistischen Weltsystem, welches Afrika und die beiden Amerikas zugleich kolonisiert (Wallerstein 2003, 69-99).

Zion und Jerusalem als die Stadt auf dem Berg (city upon the hill) werden von Mather und seinen Gewährsleuten mehrfach verwendet: für die Stadt Boston, die kleine dörfliche Siedlung in der Wildnis (wie im Zitat oben) oder ganz Neuengland. Den Gegensatz zwischen Stadt (city) und Land (wilderness) vermittelt das Dorf und seine Kongregation (Gemeinde). Hier liegt eine Wurzel für die lange Tradition der amerikanischen Kleinstadt, die nicht nur die Sketch-Story im 19c beherrschen sollte.

Zion kann aber auch psychologisch verstanden werden, die heulenden Wilden stecken auch in uns selber. Ein Priester Peter Bulkleywird bei Mather zitiert. Er ermahnt seine Zuhörer:


" Glorifie thou the word of the Lord, which has glorified thee. Take heed, least for neglect of either, God 'remove thy candlestick' out of the midst of thee; lest being now 'as a city upon an hill,' which many seek unto, thou be left 'like a beacon upon the top of a mountain,' desolate and forsaken.


Wie jedes Dorf auch Burg gegen Versuchungen ist, so bildet der Körper einen Panzer zum Schutz der reinen Seele. Reinheit gegen den Schmutz der Indianer bildet das seelische Grundmuster von Puritanimus und Rassismus. Jeder einzelne kann eine Stadt auf dem Hügel sein. Die Menora, der goldne Kerzenleuchter, verweist erneut auf den Tempel Salomons und auf die Erleuchtung durch sie. (John Locke hatte 12 Jahre zuvor den Leuchtturm zum Symbol der Aufklärung und des Verstandes gemacht).

Ein weiteres Zitat schließt das typologische Netz von Stadt und Wildnis, von Burg und Tempel, von Reinheit und Schmutz zum Gottes-Staat:


„I might say, my skin is broken, and become loathsome; and there is no rest in my bones because of my sin, my loins are filled with a loathsome disease, and there is no soundness in my flesh ; by such a fold noisom, filthy disease, it well appeared, what I indeed was, as the prophet speaks, full of putrefying sores, it being at this time, 1 was as a city set upon a hill; that when I was attempting the pure and sacred work of the ministry, I should be surprized with that horrible disease! Do I begin to be some body in the world? God will make, me vile in the eyes of the whole country; God will humble me before the sun, and in the sight of
all Israel. He will have me begin my ministry with this disease: He knows, that I have need of a great deal of purifying, before I come to that.“ A loathsome sinner shall have a loathsome sickness! And the grace of heaven that made this fit of sickness, to be considered thus as an humiliation by this eminent young man, then entering upon his ministry, did by continually infusing other thoughts full of humiliation into him, lay the foundation of stately
 superstructures. (IV, 4)


Mather zitiert hier aus dem Tagebuch eines Geistlichen, der sich mit Pocken angesteckt hatte und nun so vor seine neue Gemeinde treten sollte. Ekel und Schmutz führt zu einer Menge von Reinigungen – Körper und Geist - aber die Erniedrigung macht ihn schließlich reif, den Grund zu legen für den Überbau des neuen Gottes-Staates, der wie eine neue Burg stehen wird. „Burg“ sprich „Dominanz“. Die vier typologischen Gegensatzpaare, die sich um das Bild von Zion und seiner Tochter Jerusalem gruppieren, ziehen sich durch alle sieben Bücher der Magnalia. Die Reinigung von Staat, Gemeinde, Körper und Wildnis als Auftrag der Siedler auf dem nordamerikanischen Kontinent beherrscht bis heute noch viele Köpfe in den USA. Die neue Burg heißt „Televangelism“, seine Zuschauer Untertanen (Wersich 1995). Als neue Gegner gelten die Einwanderer und ihre Nachkommen. Die Vorstellung das ausgewählte Volk Gottes zu sein, mit einem Auftrag die Welt zu erlösen durchzieht bis heute die politische Rhetorik in den USA: „Redeemer Nation“ (Tuveson 1968)

Drei weitere Elemente in Magnalia führen noch näher zur Sketch-Story. Da ist zunächst die Charakter-Skizze. Ein großer Teil des Buches ist mit Charakter-Skizzen von bedeutenden Männern gefüllt, Kirchenvätern, Magistraten und Gouverneuren. Sie gehören zu dem, was M. Bakhtin den biographischen Chronotop nannte: Zeit und Ort sind verknüpft durch Geschichte, die Protagonisten suchen die Wahrheit (quest), sie stehen unter dem Blick der Öffentlichkeit, ihre Leistungen sind denkwürdig. Sie sind historische Persönlichkeiten (1968). Positive Charakterskizzen im englischen Spectator ab 1712 folgen demselben Muster. Zugleich führt Mather etwas Neues ein: er zitiert aus Tagebüchern der Geistlichen. Er bereichert die repräsentativen Portraits öffentlicher Männer um deren Innenleben. Die spezifisch puritanische Introspektion, die dauernde Selbstüberprüfung über den Stand der Erwähltheit, der Zugehörigkeit zum ‚Erwählten Volk‘, legt die Wurzeln zur psychologischen Charakterisierung, welche für viele Charakterskizzen der Folgezeit – etwa ab „The Minister’s Black Veil“ (1837) – typisch wird.

Ähnlich durchbricht die typologische Unterlegung den/das Chronotop. Sie verdoppelt sozusagen Zeit und Raum: Israel und Neuengland, Jesus und puritanische Geistliche. Beide Verdopplungen transzendieren Zeit und Raum und schwächen gleichzeitig das Geschichtliche und Regionale. Die ‚Ausnahmesituation‘ Amerikas (exceptionalism) soll als unveränderlich gelten. Die typologische Unterlegung einer nationalen Erzählung bleibt bis ins 20c populär, ab 1945 auch durch antike Mythen.

Ein drittes Moment bildet die puritanische Verwendung des Übernatürlichen, um Aberglauben zu kanalisieren. Das beginnt mit der Verteufelung der Ureinwohner. Aber alles Fremde, Auffällige, Ungewöhnliche könnte ebenfalls ein Zeichen von Gottes Vorsehung (proividdence) sein: Befreiung oder Strafe.

Vor allem Strafe. Hier kommen die „Offenbarung“ des Johannes und das jüngste Gericht ins Spiel (Davidson 1977). Im 18c entwickelten die puritanischen Geistlichen ausführliche Berechnungen über die Chronologie der drohenden Strafen, die Wiederkehr von Christus vor oder nach dem „Tausendjährigen Reich“ und die Parallelen zur Geschichte. Sie machten ihren Gemeinden weis, sie lebten in den letzten Tagen vor dem Jüngsten Gericht (the latter days) und nutzen Überflutungem Erdbeben, Kometen, Feuer etc., um ihnen Angst zu machen. C. Mather beteiligte sich an diesen Spekulationen.

Buch VI in Magnalia führt eine lange Reihe von Zeichen und Wunder als Erzählungen vor, in gewisser Seite die erste Anthologie von Kurzgeschichten aus den Kolonien. Meist aufgezeichnet von Pfarrern, teils eingesandt von Gemeindemitgliedern. Auch diese „übernatürlichen“ Anekdoten werfen einen sehr langen Schatten auf die literarische Entwicklung der Skizzen und Erzählungen bis hin ins 20c. Hier einige Prototypen:


Chap; III; Ceraunius. Relating remarkables done by thunder. With a Brontologia Sacra, remarkably produced. 

Brontologia Sacra : The voice of the glorious God in the thunder, explained and applied, in a sermon, uttered by a minister of the gospel, in a lecture unto an assembly of Christians abroad, at the very same time when the thunder was, by the permission and providence of God, falling upon his own house. A discourse useful for all men at all times, but especially intended for an entertainment in the hours of thunder.
 Whatever the witch-advocates may make of it, it is a scriptural and a rational assertion, that in the thunder there is oftentimes by the permission of God, the agency of the devil. The devil is the prince of the air, and when God gives him leave, he has a vast power in the air, and armies that can make thunders in the air. We are certain that satan had his efficiency in it, when the fire of God or the lightning, fell upon part of Job's estate; how glad would he have been, if the good man himself had been in the way, to have been torn in pieces ? And perhaps it was the hellish policy of the wicked one, thus to make the good man suspicious that God was become his enemy. Popes that have been conjurers, have made fire thus come from heaven, by their confederacies with evil spirits; and we have in our own land known evil spirits, plainly discovering their concurrence in disasters thus occasioned. A great man has therefore noted it, that thunders break oftener on churches than any other houses, because the daemons have a peculiar spite at houses that are set a-part for the peculiar service of God.

Benjamin Franklin fand bekanntliche eine andere Erklärung. - Das Wunderbare Zeichen liegt im Zufall: genau in diesem Moment. Zu-fall (co-incidence) ist Gleichzeitigkeit zweier Ereignisse an verschiedenen Orten („home“, „abroad“). Es ist also wieder eine ungewöhnliche, seltene Verbindung von Zeit und Raum, die Mather hier ausdeutet. Bachtin hatte bekanntlich die erzählerische Verknüpfung von Zeit und Raum als Chronotop defininiert: Abenteuerzeit, Biographiezeit, Historienzeit (1968). Indem Puritaner Ort und Zeit verdoppeln erheben sie sie Ungleichzeitigkeit ihrer Gegenwart zum Unveränderlichen: Kolonisierung gab es auch in der Tora und Moses legitimiert die Eroberung Nordamerikas. Teufel gibt es immer. Seit 1970 bereiten sich in den USA sog. Prepper, jeden Tag auf den Weltuntergang vor. Die anderen sind verdammt. „Without the exercise of some fear, no real religion can be exercised.“ (Magnalia, x). Predigten, Reiseberichte und Tagebücher registrierten die Resonanz. Samuel Sewall, z.B. notierte sich täglich Erscheinungen von Regenbogen, um sich schrittweise zu metereologischen Einsichten vor zu arbeiten. Zufälle (accidents), als Zwischenfälle eingeordnet (incidents), verketten sich bei Mather zu wunderbaren Ereignissen. Wunder erben von der antiken Zauberei (Pauly 1975) den magischen Chronotop. Odysseus betet und Zeus donnert zur Antwort (xx). Heilige Brontologie.

Figuren im Neuen Testament haben ihre Präfigurationen im Alten. Figuren der Gegenwart hatten ihre im Neuen Testament. Mark Twain ironisiert das in The Innocents Abroad (1869) oder drehte die Analogie um: A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court (1889) präfiguriert die zerstörerische Industrialisieriung seiner Zeit im Mittelalter. Sklaven sangen „Go down, Moses“ um ihren Wunsch auf Emanzipation auszudrücken. Faulkner nutzte das Spiritual als Titel seines Sketch-Romans (1942), um auf den rassistischen Verrat der McCaslin Familie an einem Angehörigen zu deuten. In „Tenth of December“ von G. Saunders (2013) rettet ein Kind einen Lebensmüden zwei Wochen vor Weihnachten. Es ist auch heute noch die biblische Weihnachtsgeschichte, in der ein Kind die Welt retten soll. Aber dazwischen präfigurieren auch viele andere Weihnachts-Geschichten seit Irving und Dickens, welche durch die jährliche Dezemberausgabe von Zeitschriften rituell erscheinen. Figuren sterben in diesen Geschichten, werden geboren oder retten andere. Zunehmend treten Vereinsamung oder Tod in den Vordergrund. Aber der Protoyp blieb die Weihnachtsgeschichte, durch die darstellenden Künste verewigt als Geburt Christi (LdK 1996) und das Kirchenjahr.

Bei Mather folgen Erfüllungen von biblischen Parabeln wie der vom verlorenen Sohn, hier als Figur von Bekehrungen Krimineller kurz vor dem Tod. Einige Dialoge mit ihnen auf dem Weg zum Galgen wurden von Priestern aufgezeichnet, eine frühe Form des Interviews. Das Muster der Bekehrung von Sündern und Ungläubigen zieht sich auch durch die anderen Geschichten. Andererseits wundersame Rettungen wie die von zwölf Männern im offenen Boot. Dann furchtbare Strafen Gottes für Sünden.

Viele weitere Sünden werden ausführlich erzählt. Da gibt es Monster, Sodomie mit Tieren, Ehebruch, eine 19jährige Gotteslästerin und Kindesmörderin, unerklärbare Zeichen und Wunder von unsichtbarer Hand (Poltergeist), falsche Pfarrer (con men) und andere Betrügereien (connery), schließlich der Umgang mit dem Teufel in Salem. Besonders die Hinrichtungen waren als öffentliches Spektakel sehr wirksam: „And she dy'd in a frame extreamly to the satisfaction of them that were spectators of it." Offensichtlich tat Aufklärung Not. (Addisons Zeitschrift The Spectator erschien 10 Jahre nach Magnalia).

Fast alle Beispiele sind exakt datiert, erhöhen also das Wunder durch den Einbruch in die Alltäglichkeit. Der Übergang zum alltäglichen Chronotop war eröffnet.

Zeichen und Wunder wirkten bis weit ins nächste Jahrhundert hinein. Aus ihnen sollte sich die Fiktion der kommenden Jahrhunderte entwickeln. David Knickerbockers Wahrheitsbeteuerungen zu Hudsons Kegelspiel in den Catskill Mountains (wenn es dort donnerte) lesen sich zum Teil wie die von Cotton Mather. Ichabod Crane hat Angst vor Gespenstern, weil er zu viel von C. Mather glaubte. Man sollte dessen Buch (VI, Kapitel 7) öfters bei Gewitter lesen.


AUS Kap. 3.


W. Scott Waverley. a model for W. Irving:


Das Sketchbook of Geoffrey Crayon, Esqu. (in einzelnen Lieferungen 1819-20 erschienen) begründete die nationalistische Tradition für die Kurzfiktionen in den USA und lieferte zugleich ein wirksames Muster für seine Nachfolger und Imitatoren: die Kombination von Skizze und Erzählung.

Irving selbst verband zwei Traditionen des C18: die europäische Bildungsreise des vermögenden englischen Gentleman (ursprünglich Aristokraten) mit seinem Reisetagebuch (voller Skizzen über besuchte Orte und Personen) und mit einem Rahmen aus den Spectator-Essays. Wie Franklin gehörte Irving zur Addison-Linie. Nicht die Erzählungen, sondern ihr Rahmen mit dem geselligen Club der Beobachter (spectators) bildeten dort einen Ausgangspunkt für die US-Linie der Skizzenbücher, vermischt mit Erzählungen. Schon dass Geoffrey Crayon, der fiktive Skizzierer, zwei Erzählungen von einem Diedrich Knickerbocker aus New York zulässt, verweist auf das Addison-Modell. Die Figur von Crayon stammte zudem aus der Tradition des sentimentalen Reisenden von Sterne und Goldsmith. Das Skizzieren übertrug er aus der grafischen Kunst. Es war die Zeit des Aufstiegs der Grafiker als Portraitisten und Buchillustratoren. Diese Transposition aus der Kunst nobilitierte das Vorhaben. Irving maskierte seine Vorbilder zusätzlich dadurch, dass er einige Erzählungen als Legenden ausgab, was auf das Modell von Walter Scott und seiner schottischen Balladen und Romanzen verwies. Er bündelte so einige sehr erfolgreiche Rezepte aus Vergangenheit und Gegenwart. Scotts war das wichtigste unte ihnen.

Scotts Romane (ab 1814) hatten einen neuen Prototyp sowohl für den historischen wie für den Gesellschafts-Roman in Europa geschaffen. In den USA nutzten J. F. Cooper (im Roman) und Irving das Vorbild für eine nationale Literatur der Fiktion, Irving für Sketch und Story. Waverley (1814) ist für die Geschichte der Sketch-Story so wichtig, dass wir kurz darauf eingehen müssen. Bei Cooper und Irving ersetzten Schottland durch die Vereinigten Staaten: beide hatten sich gegen England erhoben. In hatte Scott eine Formel gefunden, die beide wieder versöhnte: den mittleren Helden (Lukacs 1962) . Zunächst überführte Scott den biographischen Abenteuer-Chronotop ins Historische. Der schottisch-irische Jakobiner-Aufstand von 1745 gilt dem Erzähler und den Beteiligten als ein Abenteuer. Höhepunkt bilden zwei Schlachtgemälde. Der junge Waverley verlässt sein Heim, besteht seine Abenteuer und kehrt, klüger, reicher und mit einer Braut heim ins „Dulce Domum“ (Kap 70). Doch die Abenteuer sind wenig mehr als eine Kette von regelmäßig wechselnden Skizzen (Ort, Porträt von Personen, Sitten), meist gekoppelt mit dramatischen Zwischenfällen, welche die Ortswechsel motivieren. Waverley ist ein nur dünn verkleideter Reiseroman. Er kombiniert Sketch und Tale in neuer Weise. Scott selbst erläutert sein Verfahren wie folgt: Waverley als Ganzes ist ein Sketch alter Schottischer Sitten und Gebräuche (Preface). Er besteht aus einer geregelten Abfolge von Skizzen (Herrenhäusern, Dörfern, Hausherren und deren Töchtern, sozialen Ereignissen wie Banketten, Bällen, Jagden) und Erzählungen (auch eingelegten) mit dialogisierten Szenen. In Scotts Worten: „The whole circumstances of time, place, and incident combined.“ Eine ausgezeichnete Formel auch für die frühe Sketch-Story in den USA: dies Dreieck bildet die „Umstände“ für alle drei Eckpunkte: Zeit, Ort und deren Springpunkt, der Zwischenfall.

Hinzu tritt bei Scott die politische Geschichte als Rahmen. Der Aufstand in Schottland und seine Versöhnung durch Talbot-Waverley dienen als ein konservatives Gegenbild zur Französischen Revolution. Dennoch wird change zum thematischen Schlüsselwort in Waverley. Zusammen mit (ex)change kommt es im Roman 48 mal vor. Alles verändert sich, nicht nur der Held, der seine romantischen Illusionen fallen lassen muss. Auch die alten Sitten und Gebräuche sind teilweise verschwunden, die Glaubenssysteme (Aberglaube, Katholizismus, Legenden) und Rechtsprechung, das Patriarchat in den Clans des Hochlandes, die erblichen Privilegien haben sich geändert. Und das alles durch Austausch von Wörtern, Waffengewalt, Bündnissen, Geld, Töchtern und Grundbesitz. Das Skizzieren von Sitten, Gebräuchen und Gefühlen der Vergangenheit (oder entlegener Orte) gewinnt in der Sketch-Story so ein besonderes Gewicht. Das Publikum kann Spuren der Vergangenheit in seiner eigenen Gegenwart entdecken. Eine Art Doppelbelichtung. Anders herum, die Vergangenheit präfiguriert die Gegenwart des Lesepublikums, das alte Verfahren der Analogie.

[Aber der Roman verlangt mehr als die Skizze: ein eigenes Erzähltempo, und das ist wie ein rollender Stein:

The earlier events are studiously dwelt upon, that you, kind reader, may be introduced to the character rather by narrative, than by the duller medium of direct description; but when the story draws near its close, we hurry over the circumstances, however important, which your imagination must have forestalled, and leave you suppose those things, which it would be abusing your patience to relate at length." lxx.

Das Verhältnis zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit variiert zwischen Erzählung und Szene: bei Dialogen fallen beide fast zusammen. Bei Beschreibungen treten sie extrem auseinander: der Blick auf eine Landschaft oder eines Herrenhauses erfasst schneller als die Paragraphen, welches ihn der Imagination des Publikums präsentieren, das vergegenwärtigen. Selbst die gezeichnete Skizze ist schneller als das Wort. Wo Skizzieren direkt beschreibt wird sie „langweilig“. Es fehlt die menschliche Interaktion, die Handlung. Und gegen Ende können die Inferenzen häufiger werden.

Die Kette der Kapitel-Titel, welche die Leser:innen führt, bricht kurz vor der Heimkehr Waverleys ab, und wird durch Motti ersetzt. Scott geht davon aus, dass sein Publikum im Gedächtnis hält, was ihm die ersten 65 Kapitel vorgestellt hatten, und damit bestimmte Erwartungen (Hochzeit, Erbe, Vereinigung der beiden Genealogien) an den Schluss hat. Inferenz und Konjektur sind neben Abenteuer und Geheimnisentdeckung (mystery/discovery) weitere Schlüsselwörter des Romans.]

Scott legt noch einen dritten Grundstein für die Sketch-Story. Er schafft einen polylogen Roman, „Heteroglossie“, wie es Bachtin nannte. Nicht nur die Figuren sprechen unterschiedlich. Auch der Erzähler verteidigt seine wechselnde Schreibweise gegen die Forderung nach einem einheitlichen Ton wie folgt:


Now I protest to the gentle reader, that I entirely dissent from Francisco de Ubeda in this matter, and hold it the most useful quality of my pen, that it can speedily change from grave to gay, and from description and dialogue to narrative and character.


Das erstreckt sich nicht nur auf die wechselnden Schreibweisen des Erzählers, mal ernst, gelehrt, antiquarisch, mal ironisch, mal humorvoll und seinen konversationalen Umgang mit dem Publikum, sondern auch auf seine Figuren. Frauen und Männer, Herren und Bauern, Militärs und Kirchenmänner, Schotten und Engländer reden jeweils anders in Dialogen untereinander oder miteinander. Waverley ist nicht nur ein genauer Reiseführer durch Schottland – Hochland und Tiefland – sondern auch eine klangvolle Einführung in schottische Dialekte. Scott machte Dialekt zur Literatursprache und öffnet ihm den Weg in die Sketch-Stories, wie sie den nächsten achtzig Jahren in den USA verfasst werden sollte. Er selbst sammelte Folklore und führte ein Skizzenbuch bei sich. (Übrigens Waverley tut dasselbe).Das Beobachten verdrängt das Erobern und Besiedeln, damit das Militärische. Nicht ganz: die Schlacht wird im Roman zum Höhepunkt; Jagen und Fischen kommen nur als Ersatz-Einlagen vor.

Waverley wurde so durch seine internationale Resonanz u.a. auch zum Prototyp der Skizzen-Sammlung und wirkte über Irving bis weit ins 20c hinein. Man kann diesen Roman heute rückwirkend wie eine einflussreiche Skizzen-Montage lesen, welche Züge von The Encantadas, Deephaven, Winesburg, Ohio, The Hamlet, Last Exit to Brooklyn, Motel Chronicles und Storyteller vorwegnimmt: die kunstvolle Variation von time, place and incident. Wir kommen darauf zurück.

Auch das Sketchbook von Irving griff auf die mündliche Folklore der Revolution zurück, wie ich sie geschildert habe. Es ging ihm um eine Grundlegung für eine amerikanischen Nationalliteratur nach schottischem Vorbild. Rückblickend beschrieb er selbst sein Verfahren in einem Brief wie folgt:


I consider a story merely a frame on which to stretch my materials. It is the play of thought, and sentiment, and language; the weaving in character, lightly, yet expressly delineated; the familiar and faithful exhibition of scenes from common life; and the half concealed vein of humour that is often playing through the whole ... I have preferred adopting the mode of sketches and short tales rather than long works, because I choose to take a line of writing peculiar to myself, rather than fall into the manner of any other writer...

There is a constant activity of thought and nicety of execution required in writings of this kind, more than the world appears to imagine. It is comparatively easy to swell a story to any size when you have once the scheme and characters in your mind; the mere interest of the story, too, carries the reader on through pages and pages of careless writing ...but in these shorter writings every page must have its merit ... woe to him if he makes an awkward sentence or writes a stupid page ... Yet if he succeed, the very variety and piquancy of his writing - nay, their very brevity, make them frequently referred to, and where the mere interest in the story is exhausted he begins to get credit for his touches of pathos or humor; his points of wit or turns of language.

Life and Letters of Washington Irving, ed. Pierre Irving, NY 1862, Vol. II, 226)


Dies umreißt bereits recht deutlich, was die Grundlagen der Sketch-Story sein würden. Die Geschichte bildet nur den Rahmen für das freie Spiel von Gedanken, Gefühlen und Sprache, das Einweben von Charakter-Skizzen, realistischen Szenen und typischem Humor. Die Analogien zur Kunst (Rahmen, Umreißen, Genreszenen) sind deutlich. Sketch-Stories erlauben ein freies Spiel des Künstlers mit Tönen und Farben, ohne sich an das Vorbild irgendeines Autoren wie Addison zu binden. Er selbst nannte die Tonart: „mode of sketches and short tales.“ Dies würde weitreichende Folgen haben.


In "The Stagecoach" (Dez 1819, in Yorkshire) auf einer Beobachter-Reise gibt Irving eine der ersten Skizzen einer Wahrnehmung aus dem  fahrenden Fenster. Das Problem der Landschaftsskizze ist, sie woird leichjt langweiulig für ein Leseüpublikum, das zuerst an Handlung und Bewegung interessiert ist. Die Kutsche ist hier der Vorläufer der Eisenbahn. Hawthorne wird durch den Blick aus dem fahrenden Zug die Skizze innovieren.


Irving: The Stagecoach


Perhaps it might be owing to the pleasing serenity that reigned in my own mind that I fancied I saw cheerfulness in every countenance throughout the journey. A stage-coach, however, carries animation always with it, and puts the world in motion as it whirls along. The horn, sounded at the entrance of the village, produces a general bustle. Some hasten forth to meet friends; some with bundles and bandboxes to secure places, and in the hurry of the moment can hardly take leave of the group that accompanies them. In the meantime the coachman has a world of small commissions to execute. Sometimes he delivers a hare or pheasant; sometimes jerks a small parcel or newspaper to the door of a public house; and sometimes, with knowing leer and words of sly import, hands to some half-blushing, half-laughing house-maid an odd-shaped billet-doux from some rustic admirer. As the coach rattles through the village every one runs to the window, and you have glances on every side of fresh country faces and blooming giggling girls. At the corners are assembled juntos of village idlers and wise men, who take their stations there for the important purpose of seeing company pass; but the sagest knot is generally at the blacksmith's, to whom the passing of the coach is an event fruitful of much speculation. The smith, with the horse's heel in his lap, pauses as the vehicle whirls by; the cyclops round the anvil suspend their ringing hammers and suffer the iron to grow cool; and the sooty spectre in brown paper cap laboring at the bellows leans on the handle for a moment, and permits the asthmatic engine to heave a long-drawn sigh, while he glares through the murky smoke and sulphurous gleams of the smithy.

Perhaps the impending holiday might have given a more than usual animation to the country, for it seemed to me as if everybody was in good looks and good spirits. Game, poultry, and other luxuries of the table were in brisk circulation in the villages; the grocers', butchers', and fruiterers' shops were thronged with customers. The housewives were stirring briskly about, putting their dwellings in order, and the glossy branches of holly with their bright-red berries began to appear at the windows. The scene brought to mind an old writer's account of Christmas preparation: "Now capons and hens, besides turkeys, geese, and ducks, with beef and mutton, must all die, for in twelve days a multitude of people will not be fed with a little. Now plums and spice, sugar and honey, square it among pies and broth. Now or never must music be in tune, for the youth must dance and sing to get them a heat, while the aged sit by the fire. The country maid leaves half her market, and must be sent again if she forgets a pack of cards on Christmas Eve. Great is the contention of holly and ivy whether master or dame wears the breeches. Dice and cards benefit the butler; and if the cook do not lack wit, he will sweetly lick his fingers."

I was roused from this fit of luxurious meditation by a shout from my little travelling companions. They had been looking out of the coach-windows for the last few miles, recognizing every tree and cottage as they approached home, and now there was a general burst of joy. "There's John! and there's old Carlo! and there's Bantam!" cried the happy little rogues, clapping their hands.

Animation das Stichwort, fancy und observation halten sich noch im Gleichgewicht early stream of consciousness noch verformt durch das Schema der Genre-Skizze: Irving versucht, "typisch englische Szenen" einzufangen


AUS Kap. 4


zu Hawthornes Anfängen:


Twice Told Tales erschien 1837, mit einem Kredit eines Freundes. Der Verlag machte kurz darauf Bankrott. Ca. 600 Kopien wurden verkauft, die Hälfte der Auflage blieb unverkauft. Keine gute Startbasis für einen jungen Autoren. Eine erweiterte Auflage, auf die Poe aufmerksam machte, mit insg. 39 Texten erschien 1842.

Die meisten der Texte in Twice Told Tales waren bereits in Periodika erschienen, und kamen jetzt noch einmal als Buch heraus. Das ergab Möglichkeiten (die Irving zunächst nicht hatte), Erzählungen am Markt zu erproben und sie gegebenfalls für die Buchausgabe zu revidieren. Zweimal erzählt: doppelt ironischer Titel, denn viele der Texte waren nicht nur zweimal gedruckt, sie betrafen auch Bekanntes, Alltägliches, oft Erzähltes (tedious wie im zitierten Shakespeare-Vers) und sie ließenm eine doppelte Lektüre zu: wörtlich und allegorisch.

Hawthorne mischte Erzählungen und Skizzen, experimentierte mit beiden. Es sind frühe Stücke, die Erzählungen noch klar als moralische Parabeln mit abschließender Auslegung konzipiert wie

Etwas komplexer angelegt ist “The Maypole of Merrymount”, eine historische Erzählung zu einem Maifest im Jahr 1628. Hawthorne nennt sie “a philosophic romance.” Wieder enthält der Titel das zentrale Emblem, den Maibaum, welcher für Lebensfreude, Trick und Fantasie und dauernden Karneval stehen soll. Ein junges Paar steht vor der sexuellen Vereinigung, als das Fest von einer Gruppe abergläubischer Puritaner unterbrochen wird: sie fällen den Baum und zwingen das junge Paar unter das Joch der Ehe: “the moral gloom of the world overpowers all systematic gayety.” Aber Hawthornes folkloristischen Studien zu dieser rebellischen Kolonie in Massachusetts reichern die Parabel mit vielen weiteren Emblemen an, die nicht weiter ausgedeutet werden. Seit Irving und „Little Britain“ kümmerten sich die Skizzierer auch um Sitten und Gebräuche. Sie ware n frühe Ethongtraphen. Iring skizzierte die Weihnachtssitten in England, Hawthorne die Hochzeit. Beide Ereignisse wurden zum Schema für Situationsskizzen bis heute. Zeitdschriften forderten sainsonbedingt eine Weihnachtszkizze, u nd Hochzeiten erlauben das ganze Jahjr über ausführliche Schoildrung von gesellschaftlichen Zusammenhängen.Die unabhängige siedlung von Merry Mount trug demokratische, ja egalitär Züge, und ihr Gründer Roger Williams trat sogar für die Trennung von Staat und Kirche ein. Die königliche charter für diese Kolonie in Rhodes Island bestätigte deren demokratischen Charakter und bestätigte ausdrücklich die Religionsfreiheiut in ihr. Williams Ideen beeinflussten J. Milton und J. Locke (Chomsky 2016, 85).Kein Wunder, dass die Puritaner diese Kolonie zerstören wollten.

Die Intoleranz der Puritaner zeigt sich auch in “The Gentle Boy” und den etwas späteren “Legends of the Province House”. Diese Serie enthält ironische Geistergeschichten nach dem Vorbild von Washington Irving, und sollte eine lokale Legendenbildung um den kolonialen Gouverneurssitz begründen. Doch Hawthornes Beitrag zur Begründung einer Nationalliteratur blieb ambivalent: die Intoleranz der Puritaner weist andererseits bereits auf den kolonialen Freiheitskampf der Kolonien vor: der Königsmörder in “The Gray Champion” droht als Volkstribun dem englischen Gouverneur 1689 vor Unterdrückung, und Endicott (angesichts neuer Unterdrückung) schneidet aus der britischen Fahne das rote Kreuz heraus: “the first omen of that deliverance which our fathers consummated.”

Das Wort “Omen” deutet auf eine weitere Thematik, welche fast die ganze Sammlung durchzieht: die puritanische Prädestinationslehre. Hawthorne legt seine Erzählungen doppeldeutig an. Zufälle oder historische Parallelen könnten für Gläubige Belege (signs and wonders) einer göttlichen Vorsehung oder allgemeiner des Schicksals sein oder auch nicht. Ein Teil einer Präfiguration. Ein Ehepaar bestellt ein Doppelportrait, das prophetische Züge trägt, die sich erfüllen (“The Prophetic Pictures”). Eine Frau konsultiert eine Hexe über die Zukunft und stirbt dabei (“The Hollow of the Three Hills”). David Swan verschläft einen Raubüberfall, welcher ihn das Leben hätte kosten können, was den Erzähler kommentieren lässt:


Does it not argue a superintending Providence that, while viewless and unexpected events thrust themselves on mortal life continually athwart our path, there should be regularity enough to render foresight partially available?


Auch hier Ambivalenz zum puritanischen Erbe: Vorsehung Gottes oder menschliche Vorsicht vor regelmäßigen Verkettungen. Religion oder Wissenschaft? Überall schimmert bei seinen Wanderern Hawthornes Lieblingsbuch Pilgrim’s Progress durch. Doch zwischen den frühesten Erzählungen 1835 und den späteren von 1842 setzt ein Wandel vom emblematischen Allegorisieren zu einem komplexeren und mehrdeutigen Symbolismus ein. “The Minister’s Black Veil” war ein früher Prototyp von The Scarlet Letter (1850), einem Roman, der sich aus einer kurzen Parabel entwickelt hatte. Das Titelsymbol wird bereits in der Geschichte für die Mitwirkenden mehrdeutig, und das Lesepublikum wird eingeladen, daran mit zu deuten. Was steckt hinter dem scharlachroten Buchstaben „A“? Oder was maskiert die Suche nach dem Edelstein in den Suchern („The Great Carbuncle“)? Warum erscheint Mr. Ellenwood zu seiner späten Trauung im Leichengewand und lässt die Totenglocken läuten? Warum entdeckt der Maler bei einer Skizze eines Liebespaars den späteren Mord des Gatten an seiner Frau? („The Prophetic Pictures“)? Bei diesen frühen Geschichten tut sich wiederholt ein Abgrund zwischen Charakter und öffentlicher „Persönlichkeit“ (Maskierung) auf, was Poe und Melville dann dankbar weiterentwickeln. Die prophetischen Bilder tauchen bei Henry James wieder auf mit derselben Frage: Was ist der Zusammenhang zwischen Porträt (oder Charakterskizze) und Realität? Hawthorne entdeckte so die offene Parabel der Moderne. Poe in „The Lighthouse“ und Melville in „Bartleby“ lernten von ihm. John Barth parodierte diese Tradition.

Viel freier noch experimentierte Hawthorne in seinen Lokal-Skizzen, welche im zweiten Band (1842) von Twice Told Tales die Erzählungen überwiegen. Er skizziert das bewegte Dorfleben vor der Kirche distanziert aus seinem Fenster (“Sunday at Home”) oder er nutzt den Fensterrahmen zu einer Winter-Skizze mit fallenden Schneeflocken (“Snowflakes”). Das heißt er löst die statische Landschafts-Skizze mit ihren drei malerischen Ebenen (wie noch bei “Rip van Winkle”) in Bewegungen auf – die des Beobachters oder die des Gegenstandes – und ersetzt das Pittoreske oder Erhabene der klassizistischen Ästhetik durch das Alltägliche. Manches liest sich bereits wie ein Bild von Edward Hopper. Die Fiktionalisierung des Aufgezeichneten ist minimal: die Beobachterrolle allein zuhause während die Dorfgemeinde sich um die Kirche schart, die heraufziehenden Wolken am Horizont (bringen sie himmlischen Donner und Blitz?) oder die träumerischen Fantasien des Beobachter (reveries) beim Fallen der Flocken. Hawthorne konfrontiert Beobachter und Gegenstand, Subjekt und Objekt in einer spannungsvollen mehrdeutigen Beziehung, in der Ambivalenz von Einsamkeit und Geselligkeit. Er schreibt während er sieht. Er weiß nicht, wie die Skizze enden wird. Oft erfindet er eine allegorische Pointe zum Abschluss. Er improvisiert. Hier liegen die Anfänge eines literarischen Realismus.

Stärker wird die Fiktionalisierung in den retrospektiven Skizzen, der Beobachter zeichnet seine Eindrücke erst später aus dem Gedächtnis auf. (Das simultane Aufzeichnen und Sehen in der ersten Gruppe wird natürlich auch eine Fiktion sein). Ein schönes Beispiel sind die “Night-sketches, beneath an umbrella”, die schon durch den Untertitel die Ungleichzeitigkeit von Schreiben und Beobachten andeuten. Es gibt wenig Zweifel daran, dass Hawthorne selbst nachts im Regen unterwegs war, um diese Skizzen im chiaro oscuro zu verfassen. Die Bewegung kommt durch den Spaziergang, die Fiktionalisierung durch seine Fantasie und den allegorisierenden Schluss am Ortsrand, von dem er einen Mann mit Laterne ins Dunkle gehen sieht:


This figure shall supply me with a moral wherewith, for lack of a more appropriate one, I may wind up my sketch. He fears not to tread the dreary path before him, because his lantern, which was kindled at the fireside of his home, will light him back to that same fireside again. And thus we, night-wanderers through a stormy and dismal world, if we bear the lamp of Faith enkindled at a celestial fire, it will surely lead us home to that heaven whence its radiance was borrowed.


Der Predigtschluss bindet die furchtlose Aufklärung durch Licht an den Glauben zurück, das Heimfeuer wird zum himmlischen Ort. Deshalb wohl folgt der Beobachter dem Manne nicht. Allegorisch schimmert wieder Bunyan durch, aber der nächtliche Spaziergang ist durchaus realistisch. Der sich bewegende Beobachterblickpunkt, die vorweg genommene Kamerafahrt, zerlegt die Skizze in eine Reihe von Vignetten (Kurzskizzen), welche in der Entwicklung der modernen Kurzgeschichte eine große Rolle spielen sollten (E. Hemingway). Die Reihenfolge der Vignetten folgt nicht mehr dem Plan von Pilgrim’s Progress sondern dem Beobachterweg. Einen gesellschaftlichen Zusammenhang zwischen den Vignetten herzustellen (wer ist nachts noch unterwegs und warum?) bleibt den Leserinnen überlassen.

Noch erstaunlicher ist “Seven Vagabonds”, Hawthornes Vorwegnahme von Jack Londons The Road, Dos Passos USA und Jack Kerouacs On the Road. Angeblich eine Jugendreminiszenz, bietet der Text knappe Charakterskizzen (aus sieben Vignetten zusammengesetzt), wieder als Abenteuer-Reise. Diesmal auf einem Wagen eines fahrenden Puppenspielers, der unterwegs Anhalter zusteigen lässt, nacheinander: einen Buchverkäufer, ein Mädchen mit Begleiter und einer Showbox (eine Vorform des Kinos), ein bettelnder Wahrsager und ein Penobscot-Indianer – alle auf dem Weg zu einer religiösen Erweckungsveranstaltung, einem Spektakel nahe der kanadischen Grenze. Die Veranstaltung fällt überraschend aus, die Pilger trennen sich enttäuscht; der jugendliche Erzähler zieht mit dem Indianer los. Humor, Selbstironie und allegorische Vertiefung – ein Blick von unten auf die US-Gesellschaft im Übergang von Kirche zu Kino und Kommerz - halten sich kunstvoll die Wage: der jugendliche Hawthorne im Text möchte gerne ein reisender Erzähler werden. Diese Skizze - wie viele späteren - ist retrospektiv: jugendlicher Beobachter und erwachsener Erzähler treten deutlich auseinander.

Hawthorne beschleunigte das traditionelle Reiseabenteuer durch eine Zugreise durch die USA, in welcher die Reisenden von der „City of Destruction“ über „Vanity Fair“, ein überfülltes Enkaufszentrum, direkt in die Hölle befördert werden. Unterwegs stoßen sie auf offene Kloaken vor der Stadt, ein flammendes Stahlwerk, eine deutschen Riesen namens Transzendentalismus, dann eine Art Disneyland mit künstlichen Engeln am Himmel (der Vorhof der Hölle) … Kurz, in „The Celestial Railroad“ (1843) modernisierte Hawthorne das Bunyan-Schema und zog enge Verbindungen zwischen Industrialisierung, Kommerzialisierung, P.T. Barnum und R. W. Emerson als deren Werber.

Diese allegorische Geschichte wurde zum Prototyp einer Pilgerreise von unwissenden Opfern als Touristen. So bei Twain (Innocents Abroad) und H. James („The Passionate Pilgrim“), Ernest Hemingway („A Canary for One“) bis hin zu Last Exit to Brooklyn (1964) von Hubert Selby und Motel Chronicles (1982) von Sam Shepherd. Es gibt zahlreiche Variationen auf diesem Weg (Wharton, Welty, Capote, Kerouac, Paley etc.) Die Zugreise begann, den Garten zu verdrängen (L. Marx 1964) wie die Industrialiswierung die Landwirtschaft. Der Blick aus dem Zugfenster bereitete das Kino vor (Schivelbusch 1977), und die Zugreise selbst wurde eine beliebter Rahmen für zahllose Filme. Im uralten Motiv des Fensters begann sich der Rahmen zu bewegen (Kreutzer 2024). Bei den kurzen Vignetten in „The Celestial Railroad“ beschleunigte sich die Landschaftskizze zum Panorama.

Eine eher gemächliche Skizze spielt bei Tage, ist im Kinderton geschrieben und in eine ambulante Erzählung eingebettet (“Annie’s Ramble”). Der Erzähler gibt die Beobachterrolle an ein kleines Mädchen ab. Beide bestaunen naiv die Schaufenster und lassen ihre Fantasien spielen, bis die Mutter ihre Annie über den Stadtbüttel ausrufen lässt, was die Erzählung abrupt beendet. Ein sentimentales Genrebild für das Wohnzimmer, aber auch eine verdoppelte Sichtweise.


Ein zwei Dinge zu Poe:













Nach oben