0.. Einfache Formen, komplexe Beziehungen


Kurzprosa ist was wir täglich reden. Manchmal kürzer, manchmal länger. Wir erzählen was vom Vortag, dialogisieren es, wir be-schreiben etwas Entlegenes, wir erklären, wir argumentieren, was wir machen sollen usw. Oft re-präsentieren wir, ver-gegenwärtigen Abwesendes für Anwesende. Dies sind einige der grundlegenden Weisen, in denen wir Prosa nützen, mündlich oder schriftlich (Blancafort 1999).

Das Meiste davon ist bald darauf wieder vergessen, nur im Kurzzeitgedächtnis gespeichert. Unser Gedächtnis ist episodisch (Roth 2003,169 f. 308). Wir erinnern uns an etwas Vergangenes (Ferien, Fest, erste Liebe, Gefahr) meist als Ereignis.

Und diese Ereignisse wiederholen sich: unser Gedächtnis lernt sie als Schema oder Skript abzuspeichern: ein Kinderspiel, ein Restaurantbesuch, eine Schulstunde, einen Besuch in der Oper oder beim Arzt usw. Das alltägliche Schema (das Muster) hilft uns neue Ereignisse zu erkennen und zu bewerten. Neue Ereignisse sind manchmal emotional.

Deshalb erzählen wir gerne etwas Neues, nicht-Alltägliches: Etwas Komisches, Seltsames oder sogar Wunderbares („Rate mal, wer (bei) mir letzte Woche erschienen ist?“ statt „Gestern habe ich mir die Zähne geputzt.“) So etwas liegt wohl in der Sprache selbst: Fragesatz, mal Hilfsverben, Doppelbedeutungen usw. Man nennt solche Muster von Kurzprosa, die wir alle mit der Sprache erlernen, „einfache Formen“ (Jolles 1930) und man unterscheidet u. a. folgende sieben Formen: Sprichwort, Rätsel, Kasus (Fall, Exempel) Mythos, Legende, Sage und Witz sind schematisierte Muster.

Der Witz erlaubt uns eine Einleitung in die mündliche Kurzprosa und bereitet uns auf die komplexeren Formen wie Kurzgeschichten, Novellen, Skizzen oder Sketch-Stories vor.

Beginnen wir mit einem kurzen Beispiel:


(1) In der Oper. Der Tenor tönt: „Ich liebe dich, ich liebe, ich liebe dich!“
Belustigte Stimme auf der Galerie:
 „Dich is jut.“ (Baer 1969, 24)


Wer etwas von Dialekten weiß versteht sofort: dies ist ein Berliner Witz („jut“, „Dich“). Zugrunde liegt das Opern-Schema der Liebes – Arie von Tenoren. Zur Verdeutlichung ein weiterer Berliner Witz:


(2) Auf der Straße üben Mädchen Seilspringen.
Klein-Gerda: „Ewa, laß mir mal.“
Lehrerin, die gerade vorbei geht:
„Aber Gerda – laß m i c h mal.“
 Gerda: „Also jut, Ewa, laß ihr mal.“ (Baer 1969, 46)


Offensichtlich gelingt es der Lehrerin nicht, das Hochdeutsche gegen das Berlinische, die Volkssprache durchzusetzen. Mehr noch, Gerda missversteht den Satz (Doppelbedeutung vom betonten „mich“) und fordert Eva auf, die Lehrerin auch mal springen zu lassen. Ein Kinderspiel. Vielleicht holt Gerda die Lehrerin listig von ihrem hohen Ross, soll sie doch selbst mal springen! Wir lachen und bewerten das Ereignis.

Nehmen wir ein etwas eindeutigeres Beispiel:


(3) Robert Koch zu einer neuen Patientin:
„Nehmen Sie sich bitte einen Stuhl, liebe Frau.“
„Ich bin keine ‚liebe Frau’“, erwiderte sie, „ich bin die Gräfin Zitzewitz.“
 „Denn nehmen Se eben zwei Stühle.“ (Baer 1969, 55)


Wieder wird eine Person vom hohen Ross geholt, auch durch den Wechsel in die Volkssprache („Sie“, „Se“). Robert Koch ist schlagfertig. Was bei Gerda offen bleibt, ist hier eindeutig: Koch pariert einen Adelsausfall. Die Volkssprache, die Mundart, der Berliner Dialekt eignen sich dazu, Autoritäten wie klassische Oper, Lehrerin oder Gräfin lächerlich zu machen. Im letzten Fall wird der Dialog sogar einem berühmten Berliner Arzt zugesprochen. Der Witz wird hier zur Anekdote. Eine treffende Antwort einer historischen Person, seine Pointe wird wie ein Sprichwort in die Alltagssprache übernommen. Die ersten beiden Beispiele könnten wir als eigene Erfahrung erzählen: „Gestern war ich in der Staatsoper ...“ oder „Gestern war ich im Görlitzer Park.“ Das dritte aber nicht.

„Dialekt“ wird ein Schlüsselwort in diesem historischen Versuch sein. Raymond Williams hat solche Schlüsselwörter alphabetisch in Keywords (1983) zusammengestellt und ihren komplexen Bedeutungswandel durch die Jahrhunderte konstruiert. Wenn immer ich im Folgenden auf dieses Werk von Williams verweise handelt es sich um Schlüsselwörter bei der Entwicklung der Sketch-Story. Jahrhunderte kürze ich ab wie er: C18, C19, C20 usw. Diese Verweise ersparen mir Ausführungen zum historischen Zusammenhang zu der Zeit. „Naturalismus“ (naturalism) ist so ein Schlüsselwort. Steht es als Übersetzung kursiv in Klammern, verweist dieses auf Keywords. Sonst (situation) verweist die Klammer direkt zur Wikipedia.

Gehen wir noch einen Schritt weiter, und der Witz wächst herüber in eine Erzählung.

(4) Fontane erzählt, er sei bei einem Gemüsehändler vorbeigekommen, der gerade einen kleinen Jungen ohrfeigte. Auf seine Frage nach dem Grund habe er angegeben:
 „Jeden Tach, wenn er aus der Schule kommt, stellt sich der Bengel hier vor meinen Kella und wenn niemand aufpaßt, pinkelt er mir in‘t Sauerkohlfaß. Schad nix, richticht, aber wat soll der Unsinn?“ (Baer 1969, 33)

Der Gemüsehändler ist doppelt schlagfertig, er pariert die Einmischung von Fontane. Aber Fontane erzählt die Geschichte, er rahmt, beobachtet und reproduziert die Begegnung parteilich. Der Gemüsehändler wehrt sich. Er antizipiert ironisch die Erwiderung Fontanes. Fontane amüsiert sich über die widersprüchliche Abwehr. Die Pointe misslingt. Aus diesen drei Figuren und der Schule sowie aller Beziehungen zueinander ließe sich eine längere Geschichte spinnen. Eine Lausbubengeschichte wie bei Mark Twain, zum Beispiel. Oder eine Charakterskizze eines witzigen Gemüsehändlers, der seine Kunden, welche täglich bei ihm vorbeikommen, etwas erzählt. Wie beim Opernbesuch kommt viel darauf an, auf welcher Seite man steht: Tenor oder Berliner, Fontane oder Gemüsehändler. Hinter allen vier Witzen steht ein Stück Aggression (Freud 1975).

Warum? In allen Witzen geht geht es um Dominanz, anders gesagt um Konflikte zwischen Klassen (Fontane/Gemüsehändler), Geschlechterrollen (Dr. Koch / Gräfin), verschiedenen Sprachgruppen (Tenor/Berliner Galerie), Generationen (Lehrerin/Schülerin). Die Konflikte überlagern sich: bei der Gräfin Zitzewitz geht es um Klassen und Sprachgruppen, der Tenor kollidiert mit Klassen (die Galerie gegen die Hochkultur) usw. Hinzu kommt noch ein vierter Konflikt: das Alter. Die berühmten Schülerwitze, welche diese über Lehrer machen und umgekehrt (Witze „aus Kindermund“).

Was haben die vier Witze mit der Erzählung oder der Novelle zu tun? Bei allen geht es um Dialoge, genauer um eine witzige Erwiderung, ein Witzwort. Es geht um ein Erzählmuster, ein Ereignis-Schema, das allen vier zugrunde liegt. Der Witz liegt in der Umdrehung einer Erwartung, die bei den Zuhörern eine blitzartige Erkenntnis der Zusammenhänge im Ereignis auslöst. Diese Zusammenhänge sind immer gesellschaftliche Beziehungen und meist Macht-Konflikte. In den Cultural Studies heißt diese Formel oft class, gender, race, wobei race meist ethnische Konflikte, z.B. zwischen Einwanderergruppen und Religionen mit meint. Dazu kommt noch age (Barker 2009, insbes. Kap 1, 8,9, 13 und 14; vgl. Kramer 1997). Die ethnische Volkssprache bietet eine solidarische Schutzmauer gegen Zumutungen von Autoritäten wie klassischer Oper, Hochsprache, Adelstitel oder Sinn. Diese stehen alle vier für Dominanz oder Machtanspruch. Die Schülerinnen und die Berliner Opernbesucher halten zusammen. Robert Koch weist die Gräfin darauf hin, dass sie ganz alleine ist. Fontane ist auch nur ein Kunde von Gemüsehändlern.

Die vier Kategorien – selbst konfliktreich - werden uns durch das Buch begleiten. Dominanz in ihnen heißen im Amerikanischen: Classism: Dominanz von Klassen; Ageism: Dominanz von Altersgruppen (gegen Kinder oder ältere Menschen); Sexism: Dominanz von Geschlechtern (meist gegen Frauen, aber auch diverse Menschen); Ethnocentrism: Dominanz gegen Andere (meist an Hautfarbe, aber auch an Kultur erkennbar: andere Sprache, andere Religion, andere Sitten).

Classism + Ageism + Sexism + Ethnocentrism (statt „Racism“) = CASE. Die vier Kategorien überschneiden sich: rassistische Angloamerikaner nennen erwachsene Afro-Amerikaner „boy“, beide nennen vielleicht ihre weiblichen Partner „baby“ (und manche meinen das positiv), reichere Männer nennen ihre Frauen gewinnorientiert „precious“, Afroamerikaner nennen ambivalent ihre weißen und schwarzen Gegner „motherfucker“ („du hast meine Mutter oder Großmutter vergewaltigt“). Die Alltagssprache (vernacular) durchziehen diese Konflikte, die letztlich auf die Ubleichheiten in Gesellschaften zurückgehen (Piketty 2022, 191-219).

CASE verweisen auf Grundkonflikte der US-Kultur. Sie stammen aus zwei Grundkonflikten seit der Kolonisation im C17: dem Widerstand gegen ethnische Dominanz (Genozid von Eingeborenen und Versklavung von Afrikaner/innen, die Masseneinwanderung) und gegen Sexismus (Massenimport von Frauen für männliche Siedler, deren Domestizierung seit der Industrialisierung im C19). Die vier Grundkonflikte (neben anderen) CASE verflechten und verändern sich im Wandel der USA vom Agrarstaat zum Industriestaat in eine Dienstleistungs-Gesellschaft, in welcher der Staat zu einer weiteren Dienstleistung wird. Auch der Widerstand gegen Domoinanz spielte in den US während der drei Epochen verschiedene Rollen.

Wer sich in diesen historischen Kontroversen nicht auskennt, findet in den Oxford Handbüchern zur US Literatur eine gute Orientierung. The Oxford Companion to Women’s Writing in the United States (OCWW 1995) hat Einträge zu Class, Ageism, Sexism, und Ethnicity. The Oxford Companion to African American Literature (OCAAL 1997) enthält ähnliche Einträge. 

Nicht alle vier Kategorien (CASE) spielen in allen Witzen mit. Dreimal wird der Altersunterschied neutralisiert oder verschoben (der „Bengel“), das Geschlecht (liebe). Aber immer wehren sich BerlinerInnen gegen die Dominanz des Hochdeutschen. Das war das Auswahlprinzip der Witz-Sammlung. (Ginge es um Schülerwitze wäre AGEISM die häufigste Kategorie). Die Dominanzverhältnisse zwischen Geschlechter-Rollen, Ethnizität, Alter und Klasse überlagern sich z. T. In komplexer Weise („Zitzewitz“ stammt aus Hinterpommern, ein witziger Name wohl nur in Berlin). Wie beim Gemüsehändler geht es auch um Großstadt gegen das Land.

Vor allem die männliche Dominanz über Frauen wird in den Stories aus den USA von 1800 bis 2000 eine wichtige Rolle spielen. Eine aufschlussreiche Theorie dazu hat Pierre Bourdieu (2005) geliefert. Dominanz ist eine Form symbolischer Gewalt. Für die männliche Herrschaft (Dominanz) ist die Familie zentral, welche auch deren Reproduktion übernimmt (120-26) Diese Gewalt verkörpert sich bis hin zu Charakter, Dispositionen (Habitus), Gebräuche, Wahrnehmung und Körpersprache – alles zentrale Themen in Sketch-Stories der USA. Sie verkörpert sich auch bis zur Ver-gewaltigung und zum Kindesmissbrauch. Zum „Black Lives Matter“.

Klassische Rassismus-Theorien haben durch die Erforschung der menschlichen Genoms an Gültigkeit verloren. Es gab zuviele konzeptionelle Verirrungen (Arndt 2021). Schon länger ist in den USA deutlich geworden, das race/ethnicity zusammengehören (Childers / Hentzi 1995, 250-532). Sichtbare biologische Kennzeichen wie Haut- oder Augenfarbe wurden mit der Versklavung oder Diskriminierung indigener Völker aus Nordamerika, Afrika oder Asien wichtig zu deren sozialen und ökonomischen Diskrimierung. Weiße oder blonde Sklaven hatten es leichter, aus den USA zu entkommen als andere. Wie beim Sexismus spielten äußere Teil-Merkmale der Stigmatisierung des anderen Geschlechts. Kolonisierte Völker aus Indien, China, oder Mittelamerika konnten an der Einreisung behindert oder anschließend diskriminiert werden. Osteuropäische Juden waren eher an ihrer Kleidung und Haartracht erkennbar. Auch sie wurden diskriminiert.

Rassismus und Sexismus haben viel mit mit Ausbeutung zu tun. Sie sind ein Teil des Klassismus, welches schließlich auch den Adultismus mit einxchließt, z.B. die Ausbeutung von Kindern. Deren theoretischen und historischen Zusammenhänge bedürfen weiter der Klärung ( Piketty 2022). Die Ideologie des Liberalismus und Individidualismus hat seit dem C19 eine Klassenanalyse erschwert (Wallerstein 2011). In den Medien besonders der USA hatten kritische Analysen der Ausbeutung (ausgenommen die Sklalverei) kaum stattgefunden. Die Ansätze einer amrikaniqchen Abeiterliteratur um 1840 liegen, wie wri sehen werden, in den Sketch-Stories von Fabrikarbeiterinnen.

„Adultismus“ (ageism) ist eine relativ neue Prägung (Ayalon/Tesch-Römer 2018). Seine Wurzeln liegen in der patriarchalischen Familie (Horkheimer 1936). Den Grund für eine neue Einstellung zu Kindern legte Dr. Benjamin Spock (1946) mit einem Bestseller, welcher in den USA die Kindererziehung nachhaltig verändern sollte. Eine Aufarbeitung der Kinder- und Jugenliteratur steht noch aus (Hahn 2015).

Es geht im Alltag jedoch nicht nur um Dominanz. Es geht auch um Gleichheit. Die regionale oder lokale Gruppe erfährt ihren Zusammenhalt durch die Sprache, vor allem den Dialekt. In ihm verkörpert sich lokales Wissen und das vermittelt Solidarität, wie die Diskursanalyse enthüllt (Kress/Hodge 1988). Meist gehen die weniger Mächtigen ein Bündnis ein, der Konflikt wird zum Dreieck, wie im Fall von Klein-Gerda und Ewa. In den anderen Witzen verbündet sich der sozial Unterlegene (der Gemüsehändler, der Arzt, der Opernbesucher) mit seiner Sprachgemeinschaft: er versucht, die Lacher auf seine Seite zu ziehen. Frauen verschwestern sich. Macht muss nicht nur mit dem Wissen (Wortwitz) der Leute rechnen, sondern auch mit deren Solidarität untereinander. Auf der anderen Seite gibt es die Ritter der Tafelrunde: auch die Zitzewitzer schlossen Bündnisse, etwa im Heldenepos. Manchmal machten sie sich lustig über das Volk, die Bauern. Nicht nur Humor ruht auf diesem Dreieck W/M+S. Aber gerade Humor wurde zu einer wichtigen Variante der Sketch-Story in den USA: der Humoreske.

Der Widerspruch von (vorhandener oder fehlender) Solidarität, Wissen und Macht, meist als Konflikt zwischen Klassen, Geschlechtern, Altersgruppen und ethnischen Gruppen, wird uns in klassischen Kurzgeschichten und Sketch-Stories aus den USA entgegen treten. Und zwar in vielen privaten wie öffentlichen Ereignissen, vermittelt durch ebenso viele Erzählweisen, mehr oder weniger explizit, entweder dramatisiert als Szene oder erzählt von einem Beobachter.

In den vier erzählten Witzen wird der Dialog in wörtlicher Rede von einem (kurzen) Erzähltext gerahmt, der sich durch die Hochsprache deutlich von der Sprache in den Dialogen unterscheidet. Er setzt immer schon eine gewisse soziale Kenntnis voraus über Galerien, Seilspringen, Professoren oder Sauerkraut. Je mehr der Erzähler weglässt, desto mehr müssen wir beim Lesen ergänzen, im radikalsten Fall fast alles:

(5) Orje: „War machste denn?“
Nante: „Nischt.“
 Orje: „Da mach ich mit.“ ( Baer 1969, 34, 52)

Ohne die Kenntnis, dass Nante ein volkstümlicher Eckensteher Alt-Berlins war, fehlt dem „Nischt“ und dem „Da“ fast jeder soziale Inhalt; nur, dass es ums Nichtstun geht, bekommen wir mit. Solidarität schon, aber wo bleibt die Macht? Die Zuhörer müssen sie erschließen. Versuchen Sie mal, den fünften Witz in die Liste oben einzutragen. Wir sind schon fast bei Herman Melvilles berühmter Sketch-Story „Bartleby“ angelangt. Oder bei Grace Paleys „The Story Hearer“.

Die extreme soziale Verkürzung – hier um Arbeitsverweigerung und ihre mögliche solidarische Begründung – kann oft über die Typisierung der Figuren aufgefangen werden. Gräfin Zitzewitz (sie gab es wirklich), der Doktor, die Lehrerin, Klein-Gerda oder Nante gehören wie Wortvarianten, Redensarten oder Sprichwörter zum regionalen Dialekt mit dem Stereotyp von der Berliner Schnauze. Diese Typisierung erlaubt einerseits eine aufschlussreiche Geographie des deutschen Witzes (wie es etwa eine aufschlussreiche Regionalgeschichte der us-amerikanischen Kurzgeschichte geben könnte). Da Typen aber wie ethnische Witze auch anderswo Vorurteile berühren, bekommen Witze eine politische Dimension. Schlagfertigkeit wird nicht aller Ortens geschätzt. Hinter dem so genannten Lokalkolorit (local color) der US-Kurzgeschichten stecken meist politische Machtkonflikte, wie wir sehen werden. Die Figuren-Konstellationen und der Konflikt zwischen Dominanz und Gleichheit in ihnen werden die jeweils gewählten Zeiträume erhellen und die historische Resonanz einzelner Geschichten erklären helfen. Manchmal auch deren zeitweises Verstummen wie am Beipiel von Brown, Melville, Crane, Stein oder Paley.

Witze kann man dehnen bis zur Kurzgeschichte. Solches kann man auch mit Sprichwörtern, Rätseln, Charakterskizzen oder Ortsbeschreibungen machen. Umgekehrt können Witze, Rätsel, Skizzen als Episoden in längere Erzählungen, Biographien oder Romane eingebaut werden und dort die Charakterisierung der Figuren oder Schauplätze differenzieren. All das hat seine literarische Historie.

Es fehlt nur noch ein Schritt zur Sketch Story. Ihre Nobelpreis-Lesung für Literatur eröffnete Toni Morrison 1993 mit einer kurzen Geschichte. Eine Gruppe junger Leute will eine alte weise Frau auf dem Lande bloßstellen, indem sie diese fragen, ob der Vogel, den sie in ihrer Hand halten, tot oder lebendig sei. Die Blinde schweigt. Doch nach der dritten Wiederholung der Frage antwortet sie mit:

„Ich weiß es nicht“, sagte sie. „Ich weiß nicht, ob der Vogel in deiner Hand tot oder lebendig ist, so kannst du ihn immer noch töten. Wenn er am Leben bleiben soll, so ist das deine Entscheidung. Du hast es in der Hand.“ (Morrison 2019, 167)

So etwas nennt man in der Literaturwissenschaft eine „Parabel“. Sie lässt sich wie folgt definieren: "A short and simple story, related to allegory and fable … which point a moral. Our Lord’s forty parables are recorded in the synoptic Gospels only. See EXEMPLUM." (Curzon 1999)

Morrisons Nach-Erzählung einer Parabel erfüllt die Kriterien: sie ist einfach und hat eine moralische Pointe. Diese besteht in der Anwendung auf die Situation der Nobelpreis-Verleihung im Jahr 1993. Morrison deutete den Vogel als Sprache, die weise Frau als Autorin Schriftsteller:innen tragen eine besondere gesellschaftliche Verantwortung, weil sie ihr Publikum auf den Gebrauch der Sprache, die Beziehung zwischen Sprache und Dominanz hinweisen. Was sie mit ihrer Rede auch tun: sie verallgemeinern eine Anekdote zur Gleichniserzählung, mit christlichen Prototypen. Ein berühmtes Beispiel aus den Sprüchen von Jesu (apothegmata) mag das belegen. Pharisäer befragen ihn, ob man dem (römischen) Kaiser im kolonisierten Palästina Steuern zahlen solle. Eine Fangfrage.

"Als nun Jesus ihre Bosheit merkte, sprach er: Ihr Heuchler, was versucht ihr mich? Zeigt mir die Steuermünze! Und sie reichten ihm einen Silbergroschen. Und er sprach zu ihnen: Wessen Bild und Aufschrift ist das? Sie sprachen zu ihm: Des Kaisers. Da sprach er zu ihnen: So gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist! Als sie das hörten, wunderten sie sich, ließen von ihm ab und gingen davon." (Matthäus 22, 15-22)

Es ist leicht, die Analogie zu Toni Morrisons Parabel zu erkennen. Jesus pointiert eine typische Situation des Lebens, um sie auf eine politische Problematik übertragen: die Trennung von Staat und Kirche. Bei Morrison dominiert die sprachliche Interaktion, der Vogel ist ein Symbol. Das Publikum hat es in der Hand, ob es das literarische Wort sterben lässt oder hegt: Metonymien wie „Schwarz“ für Menschen aus Afrika ist vielleicht rassistisch (Mensch auf Hautfarbe reduziert), kann faschistisch werden. Oder ein Wort für ethnischen Widerstand: Black Lives Matter. Es liegt bei uns.

Erweiterungen können die Parabel zur Allegorie ausbauen. Der Vogel könnte ein Nest haben, gefangen worden sein etc. Morrison erweitert wie folgt: sie fügt kurze Beschreibungen der Situation hinzu (ein kleinen Haus außerhalb des Ortes), charakterisiert die alte, weise Frau (eine Tochter von Sklaven, ihr Ruf als Wissende, ihre Nachbarschaft usw.) und führt ihre jungen Gegenspieler szenisch ein: Eines Tages, sie stehen vor ihr, ihre Stimme ist leise und ernst. CASE. Beschreibung impliziert eine gesellschaftliche Situation, welche Stadt und Land spaltet: Nachbarschaft/Stadt, Intelligenz,/ländliche Propheten. Konflikte, Dominanz. Die Parabel wird zu einer „Geschichte,“ erweiterbar bis hin zum Roman (Das Urteil). Die Anwendung lässt man weg, die Parabel öffnet sich für unsere Deutungen: wer sind die Richter? Und ihre Henker? Wer richtet die Richter?

Jesus griff bei seinen Sprüchen, Gleichnissen und Parabeln auf jüdische Folklore zurück. Er nützte aber auch das EXEMPLUM, dem vorchristlichen Äquivalent. Ihm fehlt meist das Bildliche der Parabel (Bultmann 1967, 192-93). Es gehörte bereits zur antiken Topik von Aristoteles und Cicero. Beide, Parabel und Exempel, wurden zu Grundformen literarischer Kurzprosa.

Halten wir fest: eine gemeinsame Wurzel von Witzen und Kurzgeschichten ist der Dialog, und Anekdoten wie Parabeln gehen auf (legendäre) Sprüche berühmter Persönlichkeiten zurück. (Haben Robert Koch oder Jesus das wirklich einmal gesagt?) Ein lokaler oder momentaner Vorfall wird zu einer „typischen Seite des Lebens“, der menschlichen Interaktion gemacht und damit zu einem „Geschehen“, zur „Geschichte“. Da „Geschichte“ im Deutsche mehrdeutig ist, benutze ich im folgenden den Begriff „Narrativ“ für beides: mündliche „Erzählung“ (tale) oder schriftliche „Geschichte“ (story). Nicht-fiktive schriftliche Narrative der Vergangenheit nenne ich „Historie“ (history). Dieser Text ist ein Beitrag zur Literaturhistorie. Nur teilweise narrativ.

Ich habe mit Morrisons Rede und der Parabel auf die Verantwortung von Literatur für Sprache ein „Predigtmärlein“ verwendet, um auf die Historie der Sketch-Story vorzubereiten. Mein Ziel ist es, an Lydia Child, Herman Melville, Mark Twain, Gertrude Stein, Ernest Hemingway, Grace Paley oder George Saunders zu überprüfen, in wie weit Sketch-Stories in den USA ihrer historischen Verantwortung nach kommen oder nicht.

Kurzprosa ist flexibel, dehnbar. Witze und Parabeln gehen auf eine gemeinsame einfache Form zurück: das Frage -Antwort Spiel mit einer Pointe (Jolles 1930, ). Das kindliche Fragealter hat tiefe Spuren in uns hinterlassen. Es verbindet unsere Umgangssprache mit Literatur. Sketch Stories (kurze Prosaskizzen) waren lange Zeit ein offenes Lern- und Experimentierfeld für literarische Schriftsteller, nicht nur in den USA. Einige von ihnen haben ihre Romane aus Skizzen konstruiert.

Im folgenden werde ich die Geschichte der geschriebenen Kurzprosa in den USA in acht Kapiteln abhandeln: die Vorläufer des Erzählens Europa, die kolonialen Anfänge einer narrativen Kurzprosa bis zum Ende des 18. Jahrhundert, die Erfindung und massenhafte Verbreitung von Kurzprosa und deren Differenzierung in verschiedene Typen im C19 (Kap. 4. bis 6.) und schließlich die Modernisierung von Kurzgeschichte und Skizze im C20 und C21. Zitiert wird bis zu Hemingway und Faulkner aus dem Netz (archive.org, gutenberg.org oder einfach pdf). Für die Zeit nach 1950 finden sich viele Texte auch bei scribd.com. Seitenzahlen entfallen also.

Mehr im Anhang (Glossar, Methode, Literaturverzeichnis).


Dieser Text wird laufend aktualisiert, je nach dem Stand der Überarbeitung. 17.10.2024

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