CHAPTER II: 1820-1865

(combines old chapters 3 and 4)



3.. Lokal-Regionale Grundlegung: Irving, Catlin, Folk -1830



Romantizismus


Beide Teile der Bezeichnung - ism und Romantic – haben eine lange und komplexe Geschichte (Williams 1988). Mit der Trennung von Staat und Kirche entwickelten sich zahlreiche Sekten wie Deismus, Methodismus, Baptismus usw., welche den Puritanismus zurückdrängten. Das Suffix – ism wurde dann schnell auf andere umstrittene Bereiche übertragen (Platonism, Socialism, Heroism). „Romantic“ kam aus Europa und hatte dort eine komplexe Geschichte: einerseits am Mittelalter und „Romanzen“ orientiert, andererseits an der nationalen Bewegungen in Europa. So stieß die Einführung romantischer Ideen auf Widerstand in den USA seitens der Klassizisten des C18 und der Rationalisten der Aufklärung. So wurden romantische Ideen erst spät und nur teilweise übernommen: Einbildungskraft, Exotik, Folklore, Nationalismus und Historismus (ohne das Mittelalter zu verklären). Hauptvorbild für Fiktion und Poesie in den USA wurde Walter Scott mit seinen schottischen Prosaromanzen, den historischen Romanen. Der Buchmarkt für Romane blieb noch lange von London abhängig (Gilmore 1985).


Literarische Schlüsselwörter wie „romantisch“, „realistisch“, „naturalistisch“ oder „modernistisch“ sind also keine Epochenbegriffe. Sie stehen in der Tradition theologischer Kontroversen. Sie bezeichnen umstrittene Tendenzen in einem literarischen Feld (Bourdieu 1992, 79-261). Autoren(gruppen)  wechseln ihre  Positionen in diesem Feld. Sie steigen auf, führen eine Zeit und werden dann von anderen Gruppen verdrängt: mit den nützlichen Begriffen von Williams, sie sind emergent oder dominant oder residual (Williams 1981, 203-5). Mit diesen wechselnden Positionen verändern sich auch die Einstellungen der Autor:innen, deren Habitus. Bei Washington Irving und Edgar Allan Poe, z. B., vermischten sich klassizistische sowie romantische Züge. Der Realist Henry James bezeichnete selbst noch nach 1900 einige Aspekte seiner Romane und Novellen als „romance“. Dennoch machte James bereits in seinen letzten Werke erste Schritte zum Modernismus.


Eine ganze Reihe von Reiseberichten, Briefen, Geschichten, Skizzen über die USA erschienen zwischen 1800 und 1840 (Ludwig/Nault 1986). Sie ersetzten die koloniale Reiseliteratur der Eroberer und Siedler. Einige von diesen Titeln haben sich bis heute in der populären Kultur der USA erhalten : Audubon (1827), David Crockett (1834); andere werfen eher einen fremden Blick auf die USA (1830, 1839), wieder andere enthalten viel Elemente von Folklore und Legenden. Deutlich wird auch die zunehmend literarische oder künstlerische Überformung des Reisens und Beobachten durch Zeichnen, Szenerie, und Poesie. Vor allem die Häufigkeit des Wortes „“Sketches“ ( mehr 20 mal auch für Geschichte, Biographie und Sitten) in diesem Zeitraum fällt auf. Nach 1820 beginnt „Sketches“ das ältere gebräuchliche „Letters“ (aus der Kolonialzeit) zu ersetzen.


Durch zwei ganz unterschiedlichen Skizzenbüchern möchte ich die Anfänge von Sketch-Stories in den USA verdeutlichen. Washington Irving (1783-1859) und George Catlin (1796-1872) entwickelten wichtige Prototypen für das Skizzieren.


SCOTT und Irving:


Irving selbst verband zwei Traditionen des C18: die europäische Bildungsreise des vermögenden englischen Gentleman (ursprünglich Aristokraten) mit seinem Reisetagebuch (voller Skizzen über besuchte Orte und Personen) mit einem Rahmen aus den Spectator-Essays. Wie Franklin gehörte Irving zur Addison-Linie. Nicht die Erzählungen, sondern ihr Rahmen mit dem geselligen Club der Beobachter (spectators) bildeten dort einen Ausgangspunkt der US-Linie der Skizzenbücher, vermischt mit Erzählungen. Schon dass Geoffrey Crayon, der fiktive Skizzierer, zwei Erzählungen von einem Diedrich Knickerbocker aus New York zulässt, verweist auf das Addison-Modell. Die Figur von Crayon stammte eher aus der Tradition des sentimentalen Reisenden von Sterne und Goldsmith. Das Skizzieren übertrug er aus der grafischen Kunst. Es war die Zeit des Aufstiegs der Grafiker als Porträtisten und Buchillustratoren. Diese Transposition aus der Kunst nobilitierte das Vorhaben. Irving maskierte seine Vorbilder zusätzlich dadurch, dass er einige Erzählungen als Legenden ausgab, was auf das Modell von Walter Scott und seiner schottischen Balladen und Romanzen verwies. Er bündelte so einige sehr erfolgreiche Rezepte aus Vergangenheit und Gegenwart. Scotts war das wichtigste unte ihnen.

Scotts Romane (ab 1814) hatten einen neuen Prototyp sowohl für den historischen wie für den Gesellschafts-Roman in Europa geschaffen. In den USA nutzten J. F. Cooper (im Roman) und Irving das Vorbild für eine nationale Literatur der Fiktion, Irving für Sketch und Story. Waverley (1814) ist für die Geschichte der Sketch-Story so wichtig, dass wir kurz darauf eingehen müssen. Bei Cooper und Irving ersetzten Schottland durch die Vereinigten Staaten: beide hatten sich gegen England erhoben. In hatte Scott eine Formel gefunden, die beide wieder versöhnte: den mittleren Helden (Lukacs 1969) . Zunächst überführte Scott den biographischen Abenteuer-Chronotop ins Historische. Der schottisch-irische Jakobiner-Aufstand von 1745 gilt dem Erzähler und den Beteiligten als ein Abenteuer. Höhepunkt bilden zwei Schlachtgemälde. Der junge Waverley verlässt sein Heim, besteht seine Abenteuer und kehrt, klüger, reicher und mit einer Braut heim ins „Dulce Domum“ (Kap 70). Doch die Abenteuer sind wenig mehr als eine Kette von regelmäßig wechselnden Skizzen (Ort, Porträt von Personen, Sitten), meist gekoppelt mit dramatischen Zwischenfällen, welche die Ortswechsel motivieren. Waverley ist ein nur dünn verkleideter Reiseroman. Er kombiniert Sketch und Tale in neuer Weise. Scott selbst erläutert sein Verfahren wie folgt: Waverley als Ganzes ist ein Sketch alter schottischer Sitten und Gebräuche (Preface). Er besteht aus einer geregelten Abfolge von Skizzen (Herrenhäusern, Dörfern, Hausherren und deren Töchtern, sozialen Ereignissen wie Banketten, Bällen, Jagden) und Erzählungen (auch eingelegten) mit dialogisierten Szenen. In Scotts Worten: „The whole circumstances of time, place, and incident combined.“ Eine ausgezeichnete Formel auch für die frühe Sketch-Story in den USA: dies Dreieck bildet die „Umstände“ für alle drei Eckpunkte: Zeit, Ort und deren Springpunkt, der Zwischenfall.

Hinzu tritt bei Scott die politische Geschichte als Rahmen. Der Aufstand in Schottland und seine Versöhnung durch Talbot-Waverley dient als ein konservatives Gegenbild zur Französischen Revolution. Dennoch wird change zum thematischen Schlüsselwort in Waverley. Zusammen mit (ex)change kommt es im Roman 48 mal vor. Alles verändert sich, nicht nur der Held, der seine romantischen Illusionen fallen lassen muss. Auch die alten Sitten und Gebräuche sind teilweise verschwunden, die Glaubenssysteme (Aberglaube, Katholizismus, Legenden) und Rechtsprechung, das Patriarchat in den Clans des Hochlandes, die erblichen Privilegien haben sich geändert. Und das alles durch Austausch von Wörtern, Waffengewalt, Bündnissen, Geld, Töchtern und Grundbesitz. Das Skizzieren von Sitten, Gebräuchen und Gefühlen der Vergangenheit (oder entlegener Orte) gewinnt in der Sketch-Story so ein besonderes Gewicht. Das Publikum kann Spuren der Vergangenheit in seiner eigenen Gegenwart entdecken. Eine Art Doppelbelichtung. Anders herum, die Vergangenheit präfiguriert die Gegenwart des Lesepublikums, das alte Verfahren der Typologie.

Aber der Roman verlangt mehr als die Skizze: ein eigenes Erzähltempo, und das ist wie ein rollender Stein:


The earlier events are studiously dwelt upon, that you, kind reader, may be introduced to the character rather by narrative, than by the duller medium of direct description; but when the story draws near its close, we hurry over the circumstances, however important, which your imagination must have forestalled, and leave you suppose those things, which it would be abusing your patience to relate at length." lxx.


Das Verhältnis zwischen erzählter Zeit und Erzählzeit variiert zwischen Erzählung und Szene: bei Dialogen fallen beide fast zusammen. Bei Beschreibungen treten sie extrem auseinander: der Blick auf eine Landschaft oder eines Herrenhauses erfasst schneller als die Paragraphen, welches ihn der Imagination des Publikums präsentieren, das vergegenwärtigen. Selbst die gezeichnete Skizze ist schneller als das Wort. Wo Skizzieren direkt beschreibt wird sie „langweilig“. Es fehlt die menschliche Interaktion, die Handlung. Und gegen Ende können die Inferenzen häufiger werden.

Die Kette der Kapitel-Titel, welche die Leser:innen führt, bricht kurz vor der Heimkehr Waverleys ab, und wird durch Motti ersetzt. Scott geht davon aus, dass sein Publikum im Gedächtnis hält, was ihm die ersten 65 Kapitel vorgestellt hatten, und damit bestimmte Erwartungen (Hochzeit, Erbe, Vereinigung der beiden Genealogien) an den Schluss hat. Inferenz und Konjektur sind neben Abenteuer und Geheimnisentdeckung (mystery/discovery) weitere Schlüsselwörter des Romans.

Scott legt noch einen dritten Grundstein für die Sketch-Story. Er schafft einen polylogen Roman, „Heteroglossie“, wie es Bachtin nannte. Nicht nur die Figuren sprechen unterschiedlich. Auch der Erzähler verteidigt seine wechselnde Schreibweise gegen die Forderung nach einem einheitlichen Ton wie folgt:


Now I protest to the gentle reader, that I entirely dissent from Francisco de Ubeda in this matter, and hold it the most useful quality of my pen, that it can speedily change from grave to gay, and from description and dialogue to narrative and character.


Das erstreckt sich nicht nur auf die wechselnden Schreibweisen des Erzählers, mal ernst, gelehrt, antiquarisch, mal ironisch, mal humorvoll und seinen konversationalen Umgang mit dem Publikum, sondern auch auf seine Figuren. Frauen und Männer, Herren und Bauern, Militärs und Kirchenmänner, Schotten und Engländer reden jeweils anders in Dialogen untereinander oder miteinander. Waverley ist nicht nur ein genauer Reiseführer durch Schottland – Hochland und Tiefland – sonder auch eine klangvolle Einführung in schottische Dialekte. Scott machte Dialekt zur Literatursprache und öffnet ihm den Weg in die Sketch-Stories wie sie den nächsten achtzig Jahren in den USA verfasst werden sollte. Er selbst sammelte Folklore und führte ein Skizzenbuch bei sich. (Übrigens Waverley tut dasselbe).Das Beobachten verdrängt das Erobern und Besiedeln, damit das Militärische. Nicht ganz: die Schlacht wird im Roman zum Höhepunkt; Jagen und Fischen kommen nur als Ersatz-Einlagen vor.

Waverley wurde so durch seine internationale Resonanz u.a. auch zum Prototyp der Skizzen-Sammlung und wirkte über Irving bis weit ins 20c hinein. Man kann diesen Roman heute rückwirkend wie eine einflussreiche Skizzen-Montage lesen, welche Züge von The Encantadas, Deephaven, Winesburg, Ohio, The Hamlet, Last Exit to Brooklyn, Motel Chronicles und Storyteller vorwegnimmt: die kunstvolle Variation von time, place and incident. Wir kommen darauf zurück.


Irving and the Sketchbook

In "The Stagecoach" (Dez 1819, in Yorkshire) auf einer Beobachter-Reise gibt Irving eine der ersten Skizzen einer Wahrnehmung aus dem  fahrenden Fenster. Das Problem der Landschaftsskizze ist, sie woird leichjt langweiulig für ein Leseüpublikum, das zuerst an Handlung und Bewegung interessiert ist. Die Kutsche ist hier der Vorläufer der Eisenbahn. Hawthorne wird durch den Blick aus dem fahrenden Zug die Skizze innovieren.

Perhaps it might be owing to the pleasing serenity that reigned in my own mind that I fancied I saw cheerfulness in every countenance throughout the journey. A stage-coach, however, carries animation always with it, and puts the world in motion as it whirls along. The horn, sounded at the entrance of the village, produces a general bustle. Some hasten forth to meet friends; some with bundles and bandboxes to secure places, and in the hurry of the moment can hardly take leave of the group that accompanies them. In the meantime the coachman has a world of small commissions to execute. Sometimes he delivers a hare or pheasant; sometimes jerks a small parcel or newspaper to the door of a public house; and sometimes, with knowing leer and words of sly import, hands to some half-blushing, half-laughing house-maid an odd-shaped billet-doux from some rustic admirer. As the coach rattles through the village every one runs to the window, and you have glances on every side of fresh country faces and blooming giggling girls. At the corners are assembled juntos of village idlers and wise men, who take their stations there for the important purpose of seeing company pass; but the sagest knot is generally at the blacksmith's, to whom the passing of the coach is an event fruitful of much speculation. The smith, with the horse's heel in his lap, pauses as the vehicle whirls by; the cyclops round the anvil suspend their ringing hammers and suffer the iron to grow cool; and the sooty spectre in brown paper cap laboring at the bellows leans on the handle for a moment, and permits the asthmatic engine to heave a long-drawn sigh, while he glares through the murky smoke and sulphurous gleams of the smithy.

Perhaps the impending holiday might have given a more than usual animation to the country, for it seemed to me as if everybody was in good looks and good spirits. Game, poultry, and other luxuries of the table were in brisk circulation in the villages; the grocers', butchers', and fruiterers' shops were thronged with customers. The housewives were stirring briskly about, putting their dwellings in order, and the glossy branches of holly with their bright-red berries began to appear at the windows. The scene brought to mind an old writer's account of Christmas preparation: "Now capons and hens, besides turkeys, geese, and ducks, with beef and mutton, must all die, for in twelve days a multitude of people will not be fed with a little. Now plums and spice, sugar and honey, square it among pies and broth. Now or never must music be in tune, for the youth must dance and sing to get them a heat, while the aged sit by the fire. The country maid leaves half her market, and must be sent again if she forgets a pack of cards on Christmas Eve. Great is the contention of holly and ivy whether master or dame wears the breeches. Dice and cards benefit the butler; and if the cook do not lack wit, he will sweetly lick his fingers."

I was roused from this fit of luxurious meditation by a shout from my little travelling companions. They had been looking out of the coach-windows for the last few miles, recognizing every tree and cottage as they approached home, and now there was a general burst of joy. "There's John! and there's old Carlo! and there's Bantam!" cried the happy little rogues, clapping their hands.

Animation ist das Stichwort, fancy und observation halten sich noch im Gleichgewicht. Eine frühe Form der Assoziation von Bildern und Gedanken (stream of consciousness) noch verformt durch das Schema der lokalen Genre-Skizze: Irving versucht, "typisch englische Szenen" einzufangen.


Nicht nur Landschaften auch die Stadt lässt sich skizzieren als "typisch englisch" Irving:


Er skizzierte England z. B. durch typische Sitten wie Weihnachten oder „local history“ wie in „Little Brittain“, einen Stadtteil Londons "where the principles of sturdy John Bullism were garnered up, like seed-corn, to renew the national character":


Here flourish in great preservation many of the holiday games and customs of yore. The inhabitants most religiously eat pancakes on Shrove Tuesday, hot-cross-buns on Good Friday, and roast goose at Michaelmas; they send loveletters on Valentine's Day, burn the pope on the fifth of Novemher, and kiss all the girls under the mistletoe at Christmas.

Little Britain has its long catalogue of city wonders, which its inhabitants consider the wonders of the world; such as the great bell of St. Paul's, which sours all the beer when its tolls; the figures that strike the hours at St. Dunstan's clock; the Monument; the lions in the Tower; and the wooden giants in Guildhall. They still believe in dreams and fortune-telling, and an old woman that lives in Bull-and-Mouth Street makes a tolerable subsistence by detecting stolen goods, and promising the girls good husbands.


Hier liegt eine wichtige Wurzel der literarischen Skizze: die Zeichnung von lokalen Gebräuchen, Sitten und Ritualen (manners). Irving nennt sie bereits „scene“. Dieser Typ entspricht dem Genrebild in der Malerei: die Darstellung des einfachen Volkes wie sie die Holländer vorgemacht hatten: Straßen-, Fenster- Kneipenszenen, Schlittschuh-Fahren auf dem Teich, Feste, Hochzeiten, Ernten – oft als illustrierte Sprichwörter, welche die Szene als „gewöhnlich“ oder „gebräuchlich“ auch „sittlich“, „unsittlich“ oder ironisch einordnen. Skizzen konnten lokale Sitten als Keimzellen des Nationalcharakter deuten, schematisieren zu „typisch englisch“, „typisch amerikanisch“.

Irving-Crayon hatte in diesem Stadtteil gelebt und mitgemacht, sei es bei Volksfesten oder Kneipenabenden mit den „Roaring Lads of Little Britain“ deren Lokal-Hymne er vollständig wiedergibt. Und das ironisch. Die Ironie des Gentleman, als der er dort zeitweilig lebte, wechselte er von der Außenseiter-Sicht zum Insider: von der Papstverbrennung bis zur Hehlerin und Kupplerin. Die Aufzählung wechselt von für die USA Befremdlichen bis hin zum Verwandten: Mistelzweig bis hin zu den Zeichen und Wundern der Stadt, von Aberglauben zu Leichtgläubigkeit (die Kirchtürme). Irving übertreibt ein wenig um seinen Punkt zu machen: diese enge Lokalität ist typisch für Großbritannien. In deren Gebräuchen spiegelt sich verzerrt der Nationalcharakter als Karikatur. Humor entschärft die Kritik. (Siehe die Fernsehserie „Little Britain“ im C20.)

Diese Lokalskizze zeigt andererseits die Stärke der Genre-Skizze. Irving gleitet leicht vom Beschreiben ins Erzählen, ins Szenische:


It would do one's heart good to hear, on a club-night, the shouts of merriment, the snatches of song, and now and then the choral bursts of half a dozen discordant voices, which issue from this jovial mansion. At such times the street is lined with listeners, who enjoy a delight equal to that of gazing into a confectioner's window, or snuffing up the steams of a cook-shop.


Bei den Kneipenabenden der „Roaring Lads of Little Britain“ fühlte sich Crayon, Esqu. besonders wohl, auch draußen vor der Tür. Der Sketch ist eine frühe Form der Ethnographie, der teilnehmenden Beobachtung.

Auf der anderen Seite erlaubt es die Genre-Skizze schnell vom Beschreiben zum Porträtieren zu wechseln. Kommt Irving zu den lokalen Propheten von Little Britain wie dem alten Skyrm nimmt er sich Zeit, ihn auf einer ganzen Seite zu charakterisieren.

Die Genre-Szene bildet ein fast lautloses Scharnier zwischen Lokal- und Charakter-Sketch. In der Szene gruppiert der Beobachter Figuren vor einem lokalen Hintergrund wie Breughel, Rembrandt, Vermeer oder Frans Hals. Da die Namen und Hintergründe der Skizzen, welche zwischen Lokalität und Sitte wechseln, werde ich diesen Protoyp der Szene „Genre-Skizze“ nennen. Die Genre-Skizze vereint die Charakter- und Lokal-Skizze zu einer Szene wie im Theater: Szenerie und Figuren treten zusammen. Was in der Malerei „Genremalerei“ heißt (WdK), heißt im Theater die „Szene“. Die „Staffage“ in der LANDSCHAFT WIRD ZUR Nebenfigur oder zum Chor auf der Bühne. Wir kommen bei Poe darauf zurück.

In manchen Skizzen von Irving treten die Figuren ganz aus ihrer Staffagen-Rolle hervor und dominieren die ganze Skizze, wie z.B. der Kutscher, mit dem Crayon zum Weihnachtsfest fährt.


And here, perhaps, it may not be unacceptable to my untravelled readers to have a sketch that may serve as a general representation of this very numerous and important class of functionaries, who have a dress, a manner, a language, an air peculiar to themselves and prevalent throughout the fraternity; so that wherever an English stage-coachman may be seen he cannot be mistaken for one of any other craft or mystery.

He has commonly a broad, full face, curiously mottled with red, as if the blood had been forced by hard feeding into every vessel of the skin; he is swelled into jolly dimensions by frequent potations of malt liquors, and his bulk is still further increased by a multiplicity of coats, in which he is buried like a cauliflower, the upper one reaching to his heels. He wears a broad-brimmed, low-crowned hat; a huge roll of colored handkerchief about his neck, knowingly knotted and tucked in at the bosom; and has in summer-time a large bouquet of flowers in his buttonhole, the present, most probably, of some enamored country lass. His waistcoat is commonly of some bright color, striped, and his small-clothes extend far below the knees, to meet a pair of jockey boots which reach about halfway up his legs. ("The Stage-Coach")


Zunächst nennt Crayon, etwas herablassend, das zugrunde liegende Schema der Charakterisierung: Klasse, sichtbare Charakterzüge (traits), Rückschlüsse auf Gewohnheiten und Haltung. Arbeitsteilung ermöglicht Klassifizierungen. Charakterskizzen können typisieren, repräsentieren soziale Klassen durch Berufe. Durch Klassen-Verhältnisse kann man Nationen typisieren. ("The Country Church")

Es folgt dann eine Aufzählung typischer Handlungen und Routinen, die Rückschlüsse gehen leicht in Erzählung (country lass) über. Beide, Beschreibung und Erzählung, werden aufzählend skizziert in einer raschen Konturen-Technik (delineation). Diese Technik stammt aus dem Spectator. So entsteht ein humorvolles Bild, manchmal leicht karikiert, beim Lesen. In den Antiquariaten Londons kaufte Irving selbst solche Skizzen. Diese Art von Charakterskizze wird für auch die USA bis in das 20c typisch. Sie konnte, wie Irving an „John Bull“ zeigt, wichtige Funktionen im entstehenden Nationalbewusstsein übernehmen. Emerson machte aus dem englischen Nationalcharakter 1848 eine ganze Vortragsreihe. Die Charakterskizze, ernst oder humorvoll, sollte im Laufe des Jahrhunderts das moralische Exempel aus den Kirchenzeitschriften verdrängen. Nach dem Vorbild von Waverley führt die Skizzze die unteren Schichten als „Volk“ ein: die Kutscher, Kneipenwirte, Fleischer, Markttenderinnen, Bestatter, Tunichgute, Hehler, Kuppler, Schelme und Trickster. Sie beschreibt das Volk. Technisch: das Verhältnis von Beschreiben und Erzählen, Charakterzügen und Handlungen kann sich auch umdrehen: die indirekte Charakterisierung durch Sprechen und Handeln überwiegt die Beschreibung im Block. Wichtig ist lediglich, dass Blockcharakterisierung und Erzählen übereinstimmen. Von der Charakterkizze öffnet sich ein Weg zur szenischen Erzählung mit Dialog und Interaktion.



Kennedy and the South (imitating Irving)

Swallow Barn, or, A Sojourn in the Old Dominion (1832) ging durch zwei Revisionen, eine in 1851, die andere 1871. beide sollten die rassistischen und konservativen Züge der ersten (pseudonymen und relativ kleinen) Auflage mildern. Doch Kennedy blieb seiner Verteidigung der Sklaverei und des alten Südens treu. Mit Dominion meint er den Anspruch Virginias auf Vorherrschaft unter den Südstaaten. Schon der Titel signalisiert die grundlegende Ironie: die so bezeichnete Plantage nahm ihren Namen von der übergroßen Scheune auf dem Grundstück. Und um Grundstücke geht Alles in Swallow Barn.

In den 49 Skizzen (1851) mischen sich pastorale Züge mit Grundstückstreitereien. Nachbarn begegnen sich verliebt in „An Eclogue“ oder prozessieren mit einander. Die patriarchalischen Strukturen erstrecken sich von der Familie bis in das Justiz-System von Virginia. Und die regieren auch bei „A Negro Mother“, einer treuen Sklavin fest in die Plantage und deren Familie eingebunden.

Kennedy hielt sich enger an das Irving-Modell als andere. Er erfand einen erzählenden Skizzierer aus New York, namens Mark, der seinem Freund einen zweimonatigen Aufenthalt auf einer Plantage am James River, nahe Richmond, schildert. Nachfolger des Entdeckers John Smith (1608). Dieser lockere Rahmen verknüpft 49 Skizzen mit einer recht simplen Handlung: zwei Nachbarfamilien streiten sich um die Grenzlinie zwischen ihren Grundstücken, doch Ned aus der einen und Bel (die legendäre Südstaaten Schönheit-Belle) aus der anderen Familie verlieben sich mit voraussehbarem Ausgang. Wie Kennedy beteuerte, ging es ihm gar nicht um die Handlung, noch weniger um einen Roman, es ging um den Realismus der Skizzen:


Presenting, as I make bold to say, a faithful picture of the people, the modes of life, and the scenery of a region full of attraction, and exhibiting the lights and shades of its society with the truthfulness of a painter who has studied his subject on the spot, they may reasonably claim their accuracy of delineation to be set off as an extenuation for any want of skill or defect of finish which a fair criticism may charge against the artist. (Introduction)


Denn es ging um das Irving-Programm, aus diesen Skizzen in Hell-Dunkel (chiaroscuro) ein nationales Bewusstsein durch Heimatbindung zu fördern:


There is much good sense in that opinion which ascribes a wholesome influence to those home-bred customs, which are said to strengthen local attachments and expand them into a love of country.


Er hielt sich dabei eng auch an das ästhetische Programm der Linienführung bei Irving: der Umriss, die Profilierung der Charakterisierung und der Details bei Ortsbeschreibungen mussten stimmen. Hier zwei Beispiele, wie sie so oft bis hin zu Faulkners The Hamlet ein Dorf als Gegenstück zur Plantage, auftauchen.


Swallow Barn is an aristocratical old edifice which sits, like a brooding hen, on the sonthern bank of the James River It looks down upon a shady pocket or nook, formed by an indentation of the shore, from a gentle accliyity thinly sprinkled with oaks whose magnificent branches afford habitation to sundry friendly colonies of squirrels and woodpeckers, more than a century old, on the James River.

A few hundred steps from the mansion, a brook glides at a snail's pace towards the river, holding its course through a wilderness of laurel and alder, and creeping around islets covered with green mosses. Across this stream is thrown a rough bridge, which it would delight a painter to see; and not far below it an aged sycamore twists its roots into a grotesque framework to the pure mirror of a spring, which wells up its cool waters from a bed of gravel and runs gurgling to the brook. There it aids in furnishing a cruising ground to a squadron of ducks who, in defiance of all nautical propriety, are incessantly turning up their sterns to the skies. On the grass which skirts the margin of the spring, I observe the family linen is usually spread out by some three or four negro women, who chant shrill music over their wash-tubs, and seem to live in ceaseless warfare with sundry little besmirched and bow-legged blacks, who are never tired of making somersets, and mischievously pushing each other on the clothes laid down to dry.


Die „aristokratische“ Plantage mit Enten und ihre pittoreske Einbettung durch Bach und Sklaven, ironisch und doch liebevoll umrissen. Doch dann kommt das Gegenstück:


We had not trayelled far on our return to Swallow Bam, before we arrived at a hamlet that stands at the intersection of a crossroad. This consists of a little store, a wheelwright's shop, and one or two cottages, with their outhouses. The store was of that miscellaneous character which is adapted to the multifarious «rants of a country neighborhood, and displayed a tempting assortment of queensware, rat-traps, tin kettles, hats, fiddles, shoes, calicoes, cheese, sugar, allspice, jackknives and jewsharps,- the greater part of which was announced in staring capitals on the window-shutter, with the persuasive addition, that they were all of the best quality and to be had on the most accommodating terms. The rival establishment of the wheelwright was an old shed sadly bedaubed with the remainder colors of the paint-brush, and with some preposterous exaggerations in charcoal of distinguished military men mounted on preternaturally prancing steeds; and, near the door, a brand new blue wagon and a crimson plough showed the activity of the trade.


Handel sollte die Landwirtschaft im Süden zurückdrängen und schließlich ersetzen. Alles wird detailliert gezeichnet und koloriert, einschließlich des scharlachroten Pflugs. Eine militärische Kohleskizze an der Wand erinnert an den Krieg der Enten und Sklavenmütter. Es fehlte nur noch das Schild von Flem Snopes, der aus Enten Daunenkissen machen würde.

G:CATLIN

Ein Reisender wie der Maler George Catlin bot in seinem noch heute aufgelegten Skizzenbuch The Manners, Customs and Condition of the North American Indians, 2 Bde. (1832-38, 1841) mit seinen 300 Bilderskizzen und hunderten von verbalen Skizzen in 52 „Briefen“ eine anschauliche Einführung in die regionalen Kulturen der Indianer. Er verdeutlichte, wie bei den Mandanern, Krähen- und Schwarzfuß-Indianern, Sioux, Cheyennes, Pawnees, Komantschen, Kickapoos, Choctaws, Chickasaws usw. die Jagd eine zentrale Rolle in den unterschiedlichen Kulturen, Sitten und Gebräuchen spielte. Die Kulturen, auf die Catlin im Mississippital stieß, hatten bereits eine Geschichte von über 2.000 Jahren. Und nicht alle waren Jäger oder Sammler.

Im Unterschied zu Irving, der seine Sammlung von Essays, Tales und Sketches als Skizzenbuch fiktionalisierte – auch um der Grafikmode seiner Zeit zu entsprechen – skizzierte Catlin tatsächlich, und zwar direkt auf das Objekt gerichtet (live, aus erster Hand). Erst gegen Ende des Buches – Briefe xvii-xviv - ließ Catlin den Rahmen eines Reiseberichts mit Abenteuern und Erzählungen fallen und griff direkt auf die Kurzform seines Skizzenbuchs und damit begleitende Notizen zurück. Catlin nutzte das Rezept von Leonardo da Vinci: trage immer ein Notizbuch zum Skizzieren mit. Er trennte jedoch Notiz- und Skizzenbuch. Das erlaubte ihm, sein Zeichnen zu registrieren und verbal zu reflektieren.

Catlin berichtet unter anderem, dass er vor einem Büffel saß, der ihm zuschaute, und dem er seine Mütze zuwarf, um ihn von verschiedenen Seiten zu porträtieren (TAFEL XX). Eine der skizzierten Varianten malte er zu einem ausdrucksvollen Porträt des Tieres aus. Seine Hauptbeschäftigung war das Porträtieren von Menschen und Tieren, dicht gefolgt von malerischen Landschaften und typischen Szenen indianischen Lebens, ihrer Sitten und Bräuche. Zusammen sollten sie eine untergehende Kultur dokumentieren für eine nationale Galerie, deren Errichtung das Buch vorbereitet. Immer wieder hebt Catlin die Authentizität seiner Skizzen hervor und ließ sich diese wiederholt zertifizieren. Es ging ihm um Realismus.

Dabei stand Caitlin seine tiefe humane Sympathie für die meisten Indianer, auf welche er traf, und seine romantische Einstellung zur Natur zu diesem „Fernen Westen“ am Mississippi manchmal im Wege.

Beginnen wir wieder mit den Landschaften. Flüsse, Berge, Aussichten werden meist im Superlativ als die schönsten, malerischen Bilder Amerikas gepriesen. Die bei Irving verspottete Jagd nach dem Pittoresken beherrscht Catlins Landschaftskizzen:


I find myself surrounded by subjects and scenes worthy the pens of Irving or Cooper; or the pencils of Raphael or Hogarth; rich in legends and romances, which would require no aid of the imagination for a book or a picture. (xi)


Das Malerische in der Literatur war eine neue Verbindung mit Legenden (im Sinne von Irving) eingegangen. Alle drei prägen nicht nur die Imagination sondern überlagerten auch die Wahrnehmung von Szenen und malerischen Objekten. Auch manche von Catlins Zeichnungen wirken heute wie Vorläufer von Postkarten. Gelegentlich lässt er sich gar zu romantischen Träumereien hinreißen, zu einer Reverie:


I often landed my skiff, and mounted the green carpeted bluffs, whose soft grassy tops, invited me to recline, where I was at once lost in con- templation. Soul melting scenery that was about me ! A place where the mind could think volumes ; but the tongue must be silent that would speak; and the hand palsied that would write. A place where a Divine would confess that he never had fancied Paradise - where the painter's palette would lose its beautiful tints - the blood-stirring notes of eloquence would die in their utterance - and even the soft tones of sweet music would scarcely preserve a spark to light the soul again that had passed this sweet delirium. I mean the prairie, whose enamelled plains that lie beneath me, in distance soften into sweetness, like an essence; whose thousand thousand velvet-covered hills, (surely never formed by chance, but grouped in one of Nature's sportive moods) - tossing and leaping down with steep or graceful declivities to the river's edge, as if to grace its pictured shores, and make it " a thing to look upon.'' (xxxii)


Der Seelenschmelz wird syntaktisch nachgebildet. Wieder veranlasst die Landschaft als Szenerie einen imaginären Höhenflug, der sich vom Theologischen über das Malerische bis hin zum Musikalischen steigert, um dann von der Prairie (aus der Vogelschau wie von Shelleys Feldlerche) noch übertroffen zu werden. Die Hügel, welche als dekoratives Spiel der Natur (mit Großbuchstaben) gedeutet werden, wahrscheinlich ehemalige indianische Siedlungen oder Grabstätten am Flussufer sein. Heute schätzt man diese Hügel (mounds) auf ungefähr 100.000, meist frühe Grabstätten (Morris 13).

Wie Darwin zeigt sich Catlin wiederholt an geologischen Formationen – vulkanischen oder neptunischen Ursprungs – interessiert. Ein Gegenbeispiel taucht am Ende des Buches auf, im Brief lxix. Trotz ausdrücklichem Protest der Sioux eine heilige Stätte, die Red-Pipe Wand nicht zu besuchen, zogen Catlin und seine Begleiter zu diesem Steinbruch, aus dem die Sioux und ihre Nachbarn den Stein für ihre heiligen Pfeifen holen. Begleitend zur Skizze dieser Felswand (TAFEL. xx) beschreibt Catlin ausführlich den geologischen Befund: die Gesteinsarten, deren Schichtung und Farben, um daraus Folgerungen zu ziehen über Urströme, vulkanische Ereignisse und chemische Zusammensetzung. Er nimmt sogar einen Stein mit zur Labor-Analyse. Er könnte ja wertvoll oder verwendbar sein. Wieder besiegt das Natürliche das Göttliche. Und das Profitinteresse den Respekt vor indianischen Gebräuchen.

Trotz seiner Einsicht, dass sich ein schweigsamer Indianer in Washington vielleicht so fremd fühlt wie ein weißer Städter in einer indianischen Kleinstadt von 800 Häusern, kann Catlin sich nicht in die Sichtweise eines Sioux versetzen, oder eines Indianers, welcher vielleicht in Europa einen Stein aus einem Grabmal bricht.

Die gleiche Spaltung zwischen Romantisierung und materiellen Realismus tritt bei den Porträts auf. Hier kontrastiert Schönheit von Menschen mit der Vermessung von Kleidung und Schädel. Sein besonderes Interesse findet die Deformierung von Kinderschädeln durch Press-Bindungen (TAFEL xx). Auch bei der Schönheit einiger Frauen lässt Catlin sich nicht täuschen. Wiederholt stellt er ihren Status als (gekaufte) Sklavinnen und deren Ausbeutung fest.

Längere Zeit verbrachte Catlin im Dorf der Madaner, eines urbanen Sioux-Stamms. Das Porträt des Häuptlings Mató-topa (TAFEL 64) lässt sich gut mit Catlins verbaler Skizzierung vergleichen. Bild und Text ergänzen sich als Supplement, weder geht es um Illustrierung eines Textes, noch um eine Unterschrift eines Bildes. Verbales und zeichnerisches Skizzieren treten noch gleich berechtigt auf. Notiz- und Skizzenbuch kommen zusammen wie der Maler und sein „Objekt.“ Catlin überdenkt (und zeichnet) die Wechselwirkung zwischen seinem Zeichnen und den Betrachtern seines Zeichnen. Im Anhang A des Buchs ergänzt Catlin das Porträt von Mató-topa mit dem Narrativ von dessen elendigem Sterben samt seiner Frauen und Kinder an von Weißen eingeschleppten Blattern. (Die Hunde der Mandan-Stadt werden ihn fressen.) Skizzen halten eine soziale Begegnung fest, die verbal um eine historische Dimension ergänzt werden kann. (Das Porträt stammt von 1832, das wochenlange Sterben der Madaner geschieht 1838: unser wiederholtes Betrachten des Bildes kann durch die Kenntnis darüber, wie er starb, überlagert werden.)

Das gilt auch das anschließende Narrativ. Mató-topa lädt Catlin zum Essen ein, eine rituelle Ehre, lässt ihn dabei auf einem besonderen Büffelfell sitzen, welches er ihm anschließend schenkt. Auf dem Büffelfell sind von eigener Hand die elf Heldentaten Mató-topas als Piktogramm aufgezeichnet. Ein Tausch, sozusagen: dem Porträt folgt ein Selbstporträt. Ein anwesender US-Regierungsvertreter verdolmetscht die Erläuterungen des Helden. Sie sind in einem Kode gezeichnet, der die Waffen, Anzahl der Feinde (Fußstapfen der Pferde), Art der Tötung darstellen (TAFEL XX). Catlin zerlegt die einzelnen Narrative, linear gegliedert, in getrennte Skizzen (TAFEL xx-yy), was uns erlaubt, das Piktogramm narrativ zu verstehen. Was sich zunächst als zufällige Anordnung darbietet, entpuppt sich als chronologische Aufzählung von Rachefeldzügen, Duellen und Morden. In einer Episode erschlägt der Held zwei wehrlose Frauen eines feindlichen Stammes, was Catlin dazu veranlasst, zu fragen, was daran heldenhaft sei. Mató-topa antwortet verärgert, das sei Teil einer Rache gewesen. Das Piktogramm ist so etwas wie eine Heldensage, Legendenbildung bei den Mandanern vergleichbar den Revolutions-Erinnerungen in „The Legend of Sleepy Hollow“ oder in „The Gray Champion“ bei Hawthorne.

Auch bei den Szenen über Sitten und Bräuchen verlässt Catlin trotz aller Begeisterung oder Befremdung sein forschender Geist nicht. Die Variante des Sonnentanzes, welche er bei den Mandan sieht, befremdet: die jungen Krieger lassen sich an Haken durch ihre Haut an einem Pfahl aufhängen (TAFEL xx) und lächeln gleichzeitig ins Gesicht von Catlin der sie dabei direkt skizziert. Wieder steht die Beziehung Objekt und Künstler zur Frage.

Der Ritus hat geheime Bedeutung in welche er nicht eingeweiht wurde, aber danach erzählt ihm ein Medizinmann zwei Varianten eines Schöpfungsmythos der Mandan, der ihm schlagartig die Struktur des Ritus erhellt. Nach einem Schöpfungsmythos (Aufstieg aus der Unterwelt; Bierhorst 1985, 77-92) und einer agrarischen Urprungslegende (die Mandaner stammen aus einer Stadt, die weit flussabwärts liegt) folgt eine weitere Variante eines Gründungsmythos von der ungewollten Schwangerschaft, die Teil eines weitverbreiteten Netzes von Geschichten bildet auch bei den Salish-Sprachfamilien (Athapaskan) am Pazifik (Lévi-Strauss 1996, 19-32 u.ö.). Luchs und Coyote werden hier bei dem Mandanern durch den Ersten Menschen und den Bösen Geist ersetzt. Schwangerschaft ersetzt die pflanzenartige Entstehung der Menschen. Dann hört Catlin eine vierte Variante:


One of the Mandan doctors told me very gravely a few days since, that the earth was a large tortoise, that it carried the dirt on its back - that a tribe of people, who are now dead, and whose faces were white, used to dig down very deep in this ground to catch badgers; and that one day they stuck a knife through the tortoise-shell, and it sunk down so that the water ran over its back, and drowned all but one man. And on the next day while I was painting his portrait, he told me there were four tortoises, - one in the North - one in the East-one in the South, and one in the West ; that each one of these rained ten days, and the water covered over the earth. These ignorant and conflicting accounts, and both from the same man, give as good a demonstration, perhaps, of what I have above-mentioned, as to the inefficiency of Indian traditions as anything I could at present mention. They might, perhaps, have been in this instance however the creeds of different sects, or of different priests amongst them, who often advance diametrically opposite theories and traditions relative to history and mythology.


Wieder folgt auf eine mythologische Erzählung ein rationaler Erklärungsversuch der Verzerrung durch rivalisierende „Sekten“ oder „Priester“. Deutlich assimilierte Catlin hier indianische Mythen an den Zerfall der puritanischen Hegemonie um 1830. Dreieinigkeit.

Erst nachträglich wurde ihm der Zusammenhang zwischen Ritus und Mythos klar. Und beider mit der Urgeschichte. Bei fast allen Stämmen fand er Varianten der Sintflut-Geschichte, nahm eine gigantische Überschwemmung des Mississippitals (statt eines Meteoriten-Einschlag im Golf) an und verband sie mit seinen geologischen Beobachtungen von Felswänden und Uferböschungen.

In der Tat stieß er hier weit im Norden, am Missouri-Fluss, auf uralte Traditionen einer über 2.000 jährigen Kultur, welche sich nördlich des Azteken-Reiches im Mississippi-Tal erstreckt hatte. Wie in Asien und Europa hatten sich die frühen Hochkulturen mit Landwirtschaft an Urströmen in Mesopotamien oder am Nil gebildet. Eine Karte angefertigt von Chickasaws von 1751 zeigt (abgebildet bei Brotherston TAFEL 16a) das Missisippi-Tal als einen Verbund städtischer Kulturen, welche unter dem Einfluss der Azteken stand (Pyramiden, Maisanbau, Sonnenkult, heilige Bündnispfeifen). Die Bewohner nannten ihr Land die Schildkröteninsel (Brotherson 1992, Kap. vii). Die mächtigen Cahokia Pyramiden an der Mündung des Ohio in den Mississippi waren das kulturelle Zentrum dieser Stämme, welche sich nach Norden und Osten ausdehnten. Verbindungen bestanden bis hin zum Irokesen-Bund und zu Sprachfamilien hoch im Nordwesten. Die Kleinstadt der Mandaner am Missouri verband das Büffeljagen mit dem Anbau von Mais, Kürbis und Tabak. Man handelte und kämpfte mit nomadischen Nachbarn und Verwandten, den jagenden Sioux der Prairien. Und Mythen und Riten befestigten eine saisonale Lebensweise: städtisch-agrarisch und büffeljagend. Der mythische Aufstieg aus der Erde und der Sonnenkult waren agrarisch (wie der Mais), das Verbot, die Erde aufzugraben oder den Heimatort zu verlassen waren städtisch. Die vier Himmelsrichtungen und die heiligen Friedenspfeifen aus rotem Stein waren wichtige Mittel, den Frieden zwischen rivalisierenden Stämmen und mit fremden Invasoren zu stiften. Man rauchte die Friedenspfeife zusammen, das war so gut wie ein internationaler Vertrag (Brotherston Kap. vii). All das war Catlin unbekannt, aber mit seinem Erklärungsansatz verträglich. Er entdeckte die Viererstruktur als Erklärungsschema. Er war ein Ethnologe, bevor es die Ethnologie gab. Seine geplante Nationalgalerie, sollte ein Grundstein dafür werden.

Catlin wird auch der Zusammenhang von Ritus und Arbeitswelt bei dem doppelten Skizzieren (verbal und zeichnerisch) von Jagd und Tanz in den Stämmen klar. Die skizzierten Tänze verdeutlichen dem Lesepublikum diese Zusammenhänge (alle in TAFELN abgebildet):


Büffeljagd – Büffeltanz
Bärenjagd – Bärentanz
Jagd auf Schneeschuhen - Schneeschuhtanz
 Büffeljagd unter weißem Wolfspelz – weiße Wölfe tanzen um Büffel


Die Tiermasken, Körperbewegungen und Laute beim Tanzen sind nicht nur abergläubischer Analogie-Zauber (wie die weißen Städter glaubten), sondern auch ein körperliches Training zum Jagen und Kämpfen. Sie wurden von geheimen Männerbünden, nach Lebensaltern organisiert. Sie wirkten als ein streng reguliertes Bildungssystem, das auch als Polizei funktionierte. Frauen hatten ihre eigenen Bünde, waren aber auch teilweise der Preis für ein Eintreten in die Männerbünde. (Diese Skizzen werfen auch ein interessantes Seitenlicht auf Wand-Malereien in europäischen und afrikanischen Höhlen der Urzeit zurück: die Tiermenschen sind wahrscheinlich maskierte Jäger, die Gestik könnte aus Tänzen stammen (Gombrich 1995, 39-53). Weitere Tänze wie der Skalptanz oder der Sklaventanz erlauben tiefere Einblicke in andere Praktiken der Stämme. Allen unterliegt die strenge Geschlechter-Trennung. Frauen bleiben Sklavinnen, verkauft von ihren Vätern, als eine unter mehreren Gattinen, zu absoluten Gehorsam und Sklavenarbeit verdammt. Bis auf die Bewunderung einiger schöner Frauen und ihrer Mutterliebe spart sich Catlin jede Sentimentalität über Familie. Dies ist eine andere Kultur, nicht die „heulende Wildnis“ von Cotton Mather oder die der Romantik.

Das führt uns zu Irving zurück.

Catlin wendet sich gegen die romantische Entstellung „Amerikas“ (mit oder ohne Indigene) bei Washington Irving. Gleich eingangs hält Catlin fest, dass seine Reiseberichte und Skizzen vor Irvings Rückkehr in die USA erschienen waren. Das sieht noch wie Konkurrenz und Plagiatsvorwurf aus. In Kapitel xx wurde er schon deutlicher: ein französischer Trapper, den Catlin persönlich kennen gelernt hatte, beklagte sich, dass Irving ihn in seinem Reisebericht als „Halb-Blut“ bezeichnet hatte. Bei allem Respekt vor dem Astor-Agenten stellt Catlin fest, die Trapper des Pelzhandels, welche Indianer zu Tode schleifen oder lebendig verbrennen, bedürfen alles andere als Schutz durch noch mehr Forts und Militär wie sie Cpt. Bonneville und Irving 1837 gefordert hatten (lxxxx).

Es tut sich damit ein tiefer Konflikt auf zwischen Reiseskizzen, welche die Expansion des Pelzhandels im Namen Astors beschönigen und solchen, welche die Opfer dieser Expansion in ihrer Humanität beschreiben. Catlins Schlusskapitel in The Manners, Customs and Condition of the North American Indians (1841) ist eine beredte Anklage auf die Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik des Agrarianismus und - seit Andrew Jackson – der expandierenden Großmacht USA. Irving betrieb eine bejahende Literaturpolitik des jungen Nationalismus als Lokalkolorit. Catlin war Vorläufer einer wissenschaftlichen Ethnologie. Das Postulat der menschlichen Gleichheit siegte bei ihm meist über Bodengewinn.


[Zum Schluss noch eine Fußnote von Catlin zu den Piktogrammen von Mató-topeh. Er besteht darauf: seine Skizzen-Kopien der Büffelhaut und deren Vergrößerungen sind exakt re-präsentiert:


* The reader will bear it in mind, that these drawings, as well as all those of the kind that have heretofore been given, and those that are to follow, have been correctly traced with a Camera, from the robes and other works of the Indians belonging to my Indian Museum.


Dies 1841, wenige Jahre vor der Fotografie. Das Indianer Museum hat das Projekt einer Nationalgalerie verdrängt. Die Erfindung der Fotografie zw. 1824 und 1839 (XX) wird das Skizzieren per Hand bedrohen. Bedeutende Fotografen werden die Skizzierer aus dem Westen verdrängen. Thomas, Deloria u.a. 1998]


FOLKLORE


Neben den literarischen und ethnographischen Skizzenbücher gab es noch andere Varianten, vertreten durch Titel wie:


1825 Cusick, David. Sketches of Ancient History of the Six Nations.
1833 Anon. Sketches and Eccentricities of Col. David Crockett, of West Tennessee 
1846 Thorpe, T. B. Mysteries of the Backwoods; or, Sketches of the Southwest: including Character, Scenery, and Rural Sports.

1857 Henry Howe. The Great West. Containing Narratives of the Most Important and Interesting Events in Western History -Remarkable Individual Adventures -Sketches of Frontier Life - Descriptions of Natural Curiosities:To Which is Appended Historical and Descriptive Sketches of Oregon, New Mexico, Texas, Minnesota, Utah, California, Washington, Nebraska, Kansas, Etc., Etc., Etc.


Das Anschwellen der Titellängen ist nicht zufällig. An ihnen lässt sich die Entwicklung einer anderen Legendenbildung in den USA nach zeichnen, die mündliche, die nur als vermittelte Resonanz bei Irving und Catlin auftaucht.

Das erste Werk (1825) ist von einem frühen Vorläufer von Catlin. Cusick, selbst ein Tuskarora, versuchte, die Geschichte des Irokesenbundes aus mündlichen Quellen der Stämme zusammenstellen, zugegeben als Amateur, weil kein Historiker bis dann so etwas versucht hatte. „Sketches“ bedeutet hier soviel „vorläufige Versuche.“ Cusick beginnt seine Chronik der indianischen Kämpfe und Friedensschlüsse mit einer weiteren Variante des Schildkrötenmythos. Die irokesische Tradition verbindet das Motiv der Schwangerschaft mit dem Aufstieg aus dem Wasser, wohl eine Erinnerung an matrilineare Gesellschaftsordnungen. Cusick greift bis etwa 2.200 Jahre vor Columbus zurück und ordnet diese in einer dynastischen Genealogie, welche viele historische Migrationen und Kontakte (auch mit den Kulturen in Mexiko) registriert. Piktogramme begleiten den Text (Brotherston 1992, 233-36). Narrative überwiegen, teils mythischer und legendärer Art.

Während Cusicks Versuche kaum Beachtung fanden, wurde die anonyme Skizzen-Sammlung um Davis Crockett (1833) zu einem immer wieder erweiterten Legendenkreis um einen Pionier, welcher zum Prototyp aller Western-Helden werden sollte. Bis heute finden sich Spuren von ihm in der Kinderkultur und den Themenparks der USA. Crockett selbst hatte aus den Legenden eine politische Karrierre gemacht: die Legenden und seine Kongress-Reden sollten ihn als „wahren Volksvertreter“ ausweisen. 


Hier nur der Anfang einer ausgedehnten Bärenjagd, im Ton von Crockett, auch diese ein Prototyp bis hin zu Willam Faulkners „The Bear“ (1942).


" I was going 'long," said he, " down to a little

Harricane, 'bout three miles from our tent, where

I knew there must be a plenty of bear. 'Twas

mighty cold, and my dogs were in fine order and

very busy hunting, when I seed where a piece of

bark had been scratched ofl' a tree. I said to my

companion, there is a bear in the hollow of this

tree. I examined the sign, and I knew I was

right. I called my dogs to me ; but to git at him

was the thing. The tree was so large 'twould take

all day to cut it down, and there was no chance

to climb it. But upon looking about, I found

that there was a tree near the one the bear was

in ; and if I could make it fall agin it, I could then

climb up and git him out. I fell to work and cut

the tree down; but, as the devil would have it, it

lodged before it got there. So that scheme was

knocked in the head.



Crockett versucht uns einen Bären aufzubindenLug und Trug mischen sich mit genauer Beobachtung der Umgebung, Spuren und tierischem Verhalten. Dazu kommt aber eine neue schriftliche Fixierung einer ungeregelten Vernakularsprache, welche umgangssprachlich viele Freiheiten nimmt, andererseits die Wortwahl drastisch reduziert (was neunmal). Diese Sprache des Westens zu verschriftlichen und sie in Druck zu bringen sollte Schule machen. Crockett wurde nicht nur zum Prototyp eines nationalen Humors. Er legte auch den Grund für eine nationale Literatursprache, welche in der Stimme von Huckleberry Finn (1884/85) ihr bleibendes Vorbild finden sollte. Dieser Dialekt sollte weit über Twain und Hemingway hinaus zum „Mittelamerikanischen Prosastil“ werden (Cowley 1985, 185-93).

B. A. Botkin kreuzte in seiner umfangreichen Sammlung Helden und Erzähler mit Themen von Anekdoten, Erzählungen und Skizzen (Botkin 1944):

PART ONE: HEROES AND BOASTERS
 
I. BACKWOODS BOASTERS Pioneers
II. PSEUDO BAD MEN,
III. KILLERS Jesse James
IV. FREE LANCES Roy Bean
V. MIRACLE MEN John Henry (industrial)
VI. PATRON SAINTS Abe
PART TWO: BOOSTERS AND KNOCKERS
 
I. TALL TALE narrative
II. THE SKY’S THE LIMIT extreme rhetoric
III. LOCAL CRACKS AND SLAMS nicknames
PART THREE: JESTERS
 
I. PRANKS AND TRICKS
II. HUMOROUS ANECDOTES AND JESTS
PART FOUR: LIARS
 
I. YARNS AND TALL TALE
II. FROM THE LIARS’ BENCH lying competitions
PART FIVE: FOLK TALES AND LEGENDS
 
I. ANIMAL TALES
II. NURSERY TALES
III. WITCH TALES
IV. GHOST TALES
V. DEVIL TALES
VI. QUEER TALES [hybrid, localized or unclassifiable, DIVERSE]


Botkin selbst verweist auf den Motiv Index von Stith Thompson für Vieles in der Sammlung (176). Trotz aller Versuche der Lokalisierung oder Regionalisierung ähneln die Legenden und Schwänke denen anderer (nicht nur europäischer Kulturen). Viele der Versuche sind schlicht patriotische Werbung: „Braggin' saves advertisin’" sagt Sam Slick aus Slicksville, der Yankee als Held. Crockett als Westernheld transformiert diesen Prototyp schnell in einen „ archetype of the protean, wandering, legendary, American hero of the Munchausen-Eulenspiegel breed“ (6). Weitere Helden (und Anti-Helden) aus anderen Gegenden konkurrierten mit ihm. Die Konkurrenz führte zur Übertreibung, dem Übertreffen des Gegners. Botkin liefert dafür zahllose Beispiele. Vieles davon gelangt in die Zeitungen und von daher in die Reden von Politikern:


Sir, we want elbow-room,- the continent-the whole continent - and nothing but the continent! And we will have it! Then shall Uncle Sam, placing his hat upon the Canadas, rest his right arm on the Oregon and California coast, his left on the eastern sea-board, and whittle away the British power, while reposing his leg, like a freeman, upon Cape Horn. I Sir, the day will - the day must come!,, " (283)


Eine Charakterskizze als Nation. Eine Vorlage für Donald Trump. Oder der Bericht eines Abenteuers von Cpt. Stormalong:


Strange to relate but it was another September gale, one of those lads that generally does so much damage around Florida. The Courser was down among the Caribees and the storm whipped her about pretty badly. The Skipper wasn’t as much afraid of losing his ship as he was of hitting one of the islands and knocking it and the inhabitants into kingdom come. The ship just missed Haiti and headed west by south like a broncho with the bit in his teeth. Right down the Gulf she went until she came to Darien and without asking anybody’s permission went right through the Isthmus. The Courser found herself out in the Pacific Ocean. (185)


Statt der Südspitze von Lateinamerika jetzt der Panamakanal – das Ziel bleibt das gleiche: „a passage to India“, nämlich Zugang zu China und Japan (Smith 1971, 15-50).


Nimmt man noch die Lügen-, Hexen-, Teufels- und Geistergeschichten hinzu (494-925) hat man eine breite und offensichtliche Grundlage für die Skizzen und Erzählungen von Irving, Hawthorne und Poe. Botkins Anthologie enthält fast nur männliche Helden. Die Sprache der neuen Grenze war nicht nur rauh, sie tendierte zum Dominieren. Irving hatte sich schon in Salmagundi (1807/08) um Folklore für New York bemüht (Botkin 4, note), und er musste nach einem wilden nächtlichen Reiter nicht erst in Deutschland suchen. Auch als Knickerbocker sammelte er Folklore. Er nannte sie „Legenden“. Hawthornes netter Dorfonkel spinnt ein Garn für seine Familie, das es mit der Wahrheit nicht so genau nimmt. Sogar Hawthornes und Poes betrunkenen Teufelsgespräche nähren sich aus der Folklore. Sie verspotten den Teil des Publikums, welcher noch an den leibhaften Teufel oder seine Küche glaubt. Nur sind ihre Grotesken weit von dem Nationalismus bei Irving und der Folklore des Westens. So weit wie Cusicks Versuch einer indianischen Genealogie.

Das ist Alles erst der Anfang einer Verwandlung der US. Nach dem Bürgerkrieg wird die Folklore, besonders ihre volkstümliche Sprache zu einem festen Bestandteil der nationalen Literatur. Die Skizzenbücher von Mark Twain verbinden und versöhnen die zerstrittenen Sektionen und machen den Mittleren Westen, die Staaten am Mississippi zum Kern einer nationalen Literatursprache. H. L. Mencken hat ihr in The American Language (1919-48) ein bleibendes Denkmal gesetzt.



4.. Durch Regionalisierung und Urbanisierung zur Nationalliteratur (184- 1860)


LYDIA MARIA CHILD

Im Jahrbuch der Boston Female-anti-Slavery Society erschien 1843 der Text "Slavery's Pleasant Homes: A Faithful Sketch", eine Skizze ganz neuer Art. Er bereitete eine Wende in der Geschichte der Sketch-Story ein.

Lydia Maria Child (1802-1880) war Abolitionistin. Mit 31 Jahren hatte sie das erste Buch (einer weißen Person) zur sofortigen Abschaffung der Sklaverei in den USA veröffentlicht. Wie viele Frauen, welche sich im Abolitionismus engagierten, war sie auch Feministin und Reformerin, befreundet u.a. mit Margaret Fuller. Skizzen und Stories waren nur ein Teil ihrer umfangreichen Publikationsliste.

Das Jahrbuch schützte die Skizze vor Missverständnissen: „Pleasant“ war sarkastisch gemeint. „Faithful“ aber nicht. Ein junges glückliches Paar in Georgia bringen ihre Sklaven in die Ehe mit. Doch der Ehemann betrügt bald seine Frau mit deren Leibsklavin Rosa. Als die sich widersetzt, peitscht er sie zu Tode. Darauf ersticht Rosas Geliebter, ebenfalls Sklave der Ehefrau, den Herrn und bekennt sich als Täter, um einen feindlichen Rivalen zu retten. Er wird von Nachbarn wie ein Tier gehängt. Child nennt ihre Quellen: Zeitungsberichte aus Georgia und deren kommentarlose Nachdrucke in den Nordstaaten. Sie schließt die Geschichte mit den Worten: „Not one recorded the heroism that would not purchase life by another's death, though the victim was his enemy. His very name was left unmentioned; he was only Mr. Dalcho's slave!"


Faithful meint also „wahr“, eine wirklichkeitsgetreue Skizze. Zugleich kritisierte Child ihre Quellen: sie verzerren rassistisch die Wirklichkeit. Seit Charles Brockden Brown und „Somnambulism“ hatten Autoren wie Poe (im Fall der „Marie Roget“) Zeitungsberichte als Quellen benutzt. Presse und Journalismus wurden so zu einer bedeutenden Quelle für den Realismus in den USA. Dessen Weg ging oft über die Skizze, welche ja ebenfalls in der Presse erschien. Von Melville über Mark Twain und Jack London bis hin zu Rolando Hinojosa und Donald Bartheleme (1970). Hier bildete sich so eine eine Tradition des Skizzieren, welche die Berichterstattung in den Zeitungen kritisch begleitete. Wir werden mehr Beispiele sehen.

Zugleich brach dieses Skizzieren mit der Romanzentradition von Walter Scott, welche Abenteuer und Liebe mischte oder deren Muster nach Geschlechtern getrennt aufbereitete. Child wählte – wie Dickens – eine sentimentale Schreibweise, wie sie in den damaligen Frauenzeitschriften gepflegt wurde. Child löste so das Problem melodramatisch, indem sie mit einer sonnigen pastoralen Eheschließung beginnt und diese abrupt in einer nächtlichen Katastrophe enden lässt.

Das hatte bereits seine Tradition: die „sunshine and shadow“ Schule: das Leben hatte eben seine Sonnen- und Schattenseiten. In der Kunst entsprach dem das chiaroscuro. Wenn man beide zeigte, konnte man rührende Effekte steigern: Lächeln und Tränen. Lust und Unlust, wie Freud es nennen würde. An Child lässt sich zeigen, wie sich dieser Widerspruch zwischen realistischem Skizzieren und sentimentalem Erzählen in Szenen aus der puritanischen Predigt, dem Exempel entwickelt.

Für unseren Zusammenhang sind vor allem zwei Buchpublikationen wichtig: Die Letters from New-York (1841-43; gesamnmelt in 2 Bänden 1843, 1845) sowie Fact and Fiction (1846). „Slavery’s Pleasant Homes“ bildet einen Übergang zwischen Letters und dem Wendepunkt zum Realismus in Fact and Fiction.

Child wurde Herausgeberin von National Anti-Slavery Standard (1841-43) und war deshalb von Boston nach New York umgezogen. Sie schrieb also gleichzeitig mit Poe in dieser Stadt, welche gerade zum literarischen Zentrum der USA aufstieg (Miller 1956).

Child verfasste eine regelmäßige Kolumne als Briefe an ihre LeserInnen. Die Auswahl in den beiden Buchausgaben zeigt ihre Entwicklung vom Sketch zur Story, von der Laien-Predigt zur moralischen Erzählung (moral tale) und freien Assoziation. Zugleich markieren sie den Übergang zur Serialisation. Der Sketch wurde zur lokalen Kolumne.

Child wählte die freundliche Ansprache an die Leserinnen, wie sie Mitford in Our Village (1832) eingeführt hatte:

March is playing its usual tricks. For the first fortnight, we had such genial, brilliant weather, that June seemed to have come to us by mistake. This early spring influence always fills me with gladness. A buoyant principle of life leaps up in my soul, like sap in the trees. I feel the greatest desire of " dancing with the whole world," as Frederika Bremer says.

Forth went I into the sunshine. The doves were careering about the liberty-poles, showing the silver lining of their breasts and wings to the morning light. The little Canary birds sang so joyously, that one forgot, for the moment, that they were confined in cages. Young girls were out in the morning breeze, making the side-walk like a hedge of blush-roses. In the magnificent stores of Broadway, rich ribbons and silks shone like a parterre of tulips in the Netherlands. (II.9)


So gab zum Teil der Kalender ihr die Themen vor: Jahreszeiten, Weihnachten, Neujahr, der Erste Mai, Valentinsstag, Unabhängigkeitstag, Feuerwerk im Park oder auch ein aktueller Großbrand lieferten ihr Anlässs zu predigen über Nächstenliebe, Frieden, Alkoholismus, Sekten, Kapitalismus, Todesstrafe, Gefängnisreform, Behandlung von Geisteskranken, Blitze in kolonialem Schrifttum, Weltuntergang … Child beobachtete alles von Sitten und Gebräuchen (customs) von Gesetzen und Justiz bis hin zum Aberglauben und dessen religiösen Wurzeln. Fern von den Legenda aurea und deren Bindung ans Kirchenjahr.

Der Stil ist neu, frei assoziierend. Child ist eine Passantin, eine frühe flaneuse der Stadt. Sie kommt gerne vom Thema ab, kehrt nach Umwegen wieder zurück und verknüpft neu. Ihre Prosa wandert mit ihr (to ramble ist eins ihrer charakteristischen Verben). Sie löste von ihrem Vorbild: der puritanischen Predigt. Child war kalvinistisch aufgewachsen, zur liberalen Unitarierin geworden und wurde schließlich Freidenkerin.

Eine ihrer „Predigten“ (I.34) galt den Frauenrechten:

There are few books, which I can read through, without feeling insulted as a woman ; but this insult is almost universally conveyed through that which was intended for praise. Just imagine, for a moment, what impression it would make on men, if women authors should write about their ' rosy lips,' and ' melting eyes,' and ' voluptuous forms,' as they write about us ! …

The nearer society approaches to divine order, the less separation will there be in the characters, duties, and pursuits of men and women. Women will not become less gentle and graceful, but men will become more so. Women will not neglect the care and education of their children, but men will find themselves ennobled and refined by sharing those duties with them; and will receive, in return, cooperation and sympathy in the discharge of various other duties, now deemed inappropriate to women.

Anschließend führt sie ihre Argumentation zu der allgemeineren Frage nach einer gerechteren Gesellschaft, welcher eine noch göttlichere Ordnung folgen soll.

Als Laienpredigerin benutzte Child häufig Beispiele (die „Predigtmärlein“): Anekdoten oder voll ausgewachsene moralische Erzählungen. „Anecdotes of individuals saved by the kindness of Isaac T. Hopper“ ist ein Beispiel, „Story of the Umbrella Girl and Lord Henry Stuart“ (ein warnendes Beispiel eines Verführungsversuches) ein anderes.

Aber es gibt auch ausführlichere Charaktersketche, welche ein ganze Reihe nicht nur moralischer Problem aufwerfen: „The Eccentric German“ – ein genialer Außenseiter, „Anecdote of Voltaire“ – Verhältnisse am königlichen Hofe. Andere Skizzen thematisieren Rassismus oder Kinderarbeit: “The Eloquent Coloured Preacher. Story of Zeek, the Shrewd Slave” (I.11) oder „Little Newspaper Boy“ (I. 14).

Ein Porträt ragt aus allen anderen heraus. Child besuchte eine schwarze Wäscherin in und ließt sie ihre Lebensgeschichte erzählen: ein Sklaven-Narrativ (slave narrative), eines der wirksamsten Waffen der Abolitionistinnen. Authentische, nicht sentimentalisierte Berichte aus dem Alltag der Sklavinnen. Child versichert uns, sie habe die Erzählung so treu (faithful) wie möglich nach dem Gespräche aufgezeichnet. Eine frühe Form des Interviews, also.

„The story of poor Charity Bowery“ lässt 20 Jahre vor Mark Twain eine Frau und mehrfache Mutter über ihre Leiden und Kämpfe erzählen, ohne Unterbrechungen. Die ehemalige Eigentümerin von Charity hat deren Kinder eins nach dem anderen verkauft. Gegen Ende schildert Charity, welche Wirkung der Nat Turner Aufstandes (1831) auf die Schwarzen hatte. Child bittet sie, abschließend eines der Lieder aus der Sklaverei zu singen: Und Charity singt:


A few more risings and settings of the sun,
Ere the winter will be over-
Glory, Hallelujah!
There's a better day a coming-
There's a better day a coming-
 Oh, Glory, Hallelujah !"


With a very arch expression she looked up, as she concluded, and said, " They would n't let us sing that. They thought we was going to rise, because we sung 'better days are coming.' "

Die beiden Frauen verständigen sich durch Blicke. Es ging um die Möglichkeit einer Revolution im Süden. Hier war Predigen nicht nötig.

Rassismus und Unterdrückung trafen nicht nur die Afro-Amerikanerinnen in den USA. Auch die Indianer. Child besuchte eine Ausstellung von echten Indianer:innen im Zirkus. (In Deutschland gab es solche auch im Zoo.) Sie interviewt sie, insbesondere die Frauen unter ihnen (I.36). Als sie eine Woche später zu weiteren Gesprächen zurück kehrte, fand sie die meisten tot. Die Viren in New York, gegen die sie keine Abwehrkräfte hatten, waren wohl die Ursache (wie auch in Hamburg). Der Rassismus in der Idee, Indianerinnen und ihre Männer als Spektakel auszustellen – ein Geschäft, das bis zum Jahrhundertende in den Europa Tourneen des Buffalo Bill gipfelte – ist offensichtlich. Child durchbrach ihn, indem sie mit den Menschen sprach, deren Verdinglichung als Ware durchbricht. Margaret Fuller hatte ähnliches bei ihrer Reise in den Westen versucht.

Wie in diesem Beispiel „The Indians“ das fast ganz ohne Predigt auskommt, interessierte sich Child wiederholt für Gruppen, die Varietäten der Menschen auf die man in New York traf.

Varieties of Character, and Changing Population of New York:

In a great metropolis like this, nothing is more observable than the infinite varieties of character. Almost without effort, one may happen to find himself, in the course of a few days, beside the Catholic kneeling before the Cross, the Mohammedan bowing to the East, the Jew veiled before the ark of the testimony, the Baptist walking into the water, the Quaker keeping his head covered in the presence of dignitaries and solemnities of all sorts, and the Mormon quoting from the Golden Book which he has never seen.

More, perhaps, than any other city, except Paris or New Orleans, this is a place of rapid fluctuation, and never-ceasing change. A large portion of the population are like mute actors, who tramp across the stage in pantomime or pageant, and are seen no more. The enterprising, the curious, the reckless, and the criminal, flock hither from all quarters of the world, as to a common centre, whence they can diverge at pleasure. Where men are little known, they are imperfectly restrained ; therefore, great numbers here live with somewhat of that wild license which prevails in times of pestilence. Life is a reckless game, and death is a business transaction. Warehouses of ready-made coffins, stand beside warehouses of ready-made clothing, and the shroud is sold with spangled opera-dresses. Nay, you may chance to see exposed at sheriffs' sales, in public squares, piles of coffins, like nests of boxes, one within another, with a hole bored in the topmost lid to sustain the red flag of the auctioneer, who stands by, describing their conveniences and merits, with all the exaggerating eloquence of his tricky trade.

There is something impressive, even to painfulness, in this dense crowding of human existence, this mercantile familiarity with death. It has sometimes forced upon me, for a few moments, an appalling night-mare sensation of vanishing identity ; as if I were but an unknown, unnoticed, and unseparated drop in the great ocean of human existence ; as if the uncomfortable old theory were true, and we were but portions of' a Great Mundane Soul, to which we ultimately return, to be swallowed up in its infinity. But such ideas I expel at once, like phantasms of evil, which indeed they are. Unprofitable to all, they have a peculiarly bewildering and oppressive power over a mind constituted like my own ; so prone to eager questioning of the infinite, and curious search into the invisible. I find it wiser to forbear inflating this balloon of thought, lest it roll me away through unlimited space, until I become like the absent man, who put his clothes in bed, and hung himself over the chair ; or like his twin-brother, who laid his candle on the pillow, and blew himself out.

You will, at least, my dear friend, give these letters the credit of being utterly unpremeditated ; for Flibbertigibbet himself never moved with more unexpected and incoherent variety. I have wandered almost as far from my starting point, as Saturn's ring is from Mercury; but I will return to the varieties in New York.


Dies ist von erstaunlicher Modernität, die freie Assoziation bringt menschliche Existenz, Tod, Identität, unendliche Varietät mit Inkohärenz ins Spiel. Leben und Tod als händlerische Vertrautheit. Mercantile familiarity. Handel ersetzt Familie. Child registriert einen urbanen Multikulturalismus viel deutlicher als Poe oder Hawthorne. Die mythologische Anspielung auf W. Scott ist eher ironisch, markiert Distanz. Child begreift ihre Zeit als eine Epoche der Kommerzialisierung. Hier ist eine anderen „moderne“ Straßenszene:

Spirit of Trade“

If you wish to see a commercial age in its ultimate results, come and observe life in New-York. In one place, you will meet walking advertisements, in the form of men and boys, perambulating the thorough fares, hour after hour, with placards printed in large letters, mounted on poles. Turn down another street, and you will encounter a huge wagon, its white cloth cover stamped with advertisements in mammoth type. In another place, a black man, with red coat, cocked hat, breeches, and buckled shoes, stands at the door of a bazaar, like a sign post, to attract attention.


Der letzte Satz nimmt Twains Beobachtung eines Chinesen in San Francisco vorweg. Es folgen bei Child Transkriptionen der besonders absurder Reklame-Schilder. Der Humor von Child ist verhaltener als der von Twain, aber er trifft das Gleiche: die Verdinglichung menschlicher Beziehungen: wandelnde Schilder, menschliche Statuen, Kinderarbeit.

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In der Tat, für Child hingen diese Beobachtungen zusammen. In einer anderen Woche besuchte sie das Gefängnis auf Randall’s Island und traf dort auf Verleger pornographischer Zeitschriften und auch Prostituierte:


While I was there, they brought in the editors of the Flash, the Libertine, and the Weekly Rake. My very soul loathes such polluted publications; yet a sense of justice again made me refractory. These men were perhaps trained to such service by all the social influences they had ever known. They dared to publish what nine-tenths of all around them lived unreproved. Why should they be imprisoned, while • flourished in the full tide of editorial success, circulating a paper as immoral, and perhaps more dangerous, because its indecency is slightly veiled? Why should the Weekly Rake be shut up, when daily rakes walk Broadway in fine broadcloth and silk velvet.

...

"Many more than half the inmates of the penitentiary were women: and of course a large proportion of them were taken up as 'street-walkers.' The men who made them such, who, perchance, caused the love of a human heart to be its ruin, and changed tenderness into sensuality and crime-these men live in the 'ceiled houses' of Broadway, and sit in council in the City Hall, and pass regulations to clear the streets they have tilled with sin. And do you suppose their poor victims do not feel the injustice of society thus regulated? Think you they respect the laws? Vicious they are, and they may be both ignorant and foolish : but, nevertheless, they are too wise to respect such laws. ... The secrets of prisons, so far as they are revealed, all tend to show that the prevailing feeling of criminals, of all grades, is that they are wronged. What we call justice, they regard as an unlucky chance; and whosoever looks calmly and wisely into the foundations on which society rolls and tumbles, (I cannot say on which it rests, for its foundations heave like the sea.) will perceive that they are victims of chance."

Auch hier Verdinglichung menschlicher Beziehungen: Sex als Handel, organisiert und verwaltet durch Politik und Justiz. Die Justiz produziert Unrecht, die fehlenden Frauenrechte machen die Opfer hilflos. Child fühlte die die rebellische Stimmung der Unterschichten, teilt aber nicht deren Einstellung, das Unrecht sei Zufall. The Weekly Rake machte Werbung für Prostitution.

[Child schrieb keine sozio-ökonomischen Predigten oder Traktate. Aber ihre wandernde Beobachtung in den Straßen und Umgebungen von ‚New York fügen sich zusammen zu einem Portrait eines „Age of Commerce“ in dem alle menschlichen Beziehungen zu Waren werden: Armut und Reichtum, Kinderarbeit, Kinderverkauf, Ausgrenzung von Immigranten, Ausstellung von Indianern, bis hin zu Prostitution und Pornographie. Hinter Rathaus und Justiz steht ein System:

I have said this much to prove that money is not wealth, and that God’s gifts are equal; though jointstock companies and corporations do their worst to prevent it. … Who can bottle up the sunlight, to sell at retail ? or issue dividends of the ocean and the breeze ?" (I.16)

Dies ist das Gegenteil einer gerechten Gesellschaft, auf Freundschaft, Liebe und Familie begründet, wie sie Fourier entworfen hatte (I.37)

Child glaubte damals eher an ein spirituelles System von Korrespondenzen (frei nach Swedenborg) als in politische Ökonomie, aber sieht einen kommerziellen Zusammenhang zwischen Rassismus, Sexismus, Snobismus und Misshandlung von Kindern. Selbst Religion wird zum Geschäft (II.28), Weltuntergangs-Sekten oder solche, welche ihre Doktrin auf ein angeblich „Goldenes“ Buch begründen (II: 36) oder Patriotismus zu einem profitablen Spektakel machen (II.19) beuten gierig die Verbildung oder Leichtgläubigkeit ihrer Opfer aus. Frauen werden mit Luxusgütern von ihrer Rechtslosigkeit abgelenkt (II.31).

Child beschrieb diese Entwurzelung der städtischen Menge und die Folgen deutlicher als andere:

Do yon want an appropriate emblem of this country, and this age ? Then stand on the side-walks of New York, and watch the universal transit on the first of May. The facility and speed with which our people change politics, and move from sect to sect, and from theory to theory, is comparatively slow and moss-grown ; unless, indeed, one except the Rev. O. A. Brownson, who seems to stay in any spiritual habitation a much shorter time than the New Yorkers do in their houses. It is the custom here, for those who move out to leave the accumulated dust and dirt of the year, for them who enter to clear up. „ May-Day I.40

[Letters from New York würde wohl auch heute noch einige Zensoren auf den Plan rufen. Sie zeigen die Wurzeln der Fantasiewelt, der D. Trump entsprungen ist. Weltweit gibt es heute mehr als 8,3 Millionen Mormonen mit starken Zuwachsraten (Wersing 1995, 482). Der Finder des angeblich goldenen Buchs hatte vorher Schatzsuchen kommerziell organisiert (Anderson 2017, 68) .]

In ihrer Sozialkritik hatte Lydia Maria Child offensichtlich von Charles Dickens gelernt. Der Einfluss von Charles Dickens‘ Sketches by Boz (1836) muss groß gewesen sein, wohl oft verdeckt. Seit Dickens sich in seinem Reisebericht American Notes (1842) abfällig über die USA geäußert hatte, waren die Kritiker dort über ihn hergefallen. Child musste ihn in den Letters verteidigen.

Die aus Zeitschriften gesammelten Sketches by Boz waren in vier Teile gegliedert: "Our Parish", "Scenes", "Characters" und "Tales". Unschwer ist das US Schema der Tales and Sketches seit Irving zu erkennen, erweitert um Charakterskizzen und Szenen (Situationsskizzen). „Our Parish“ erinnert noch an Mitfords Our Village; „Characters“ enthält Skizzen von Kutschern wie bei Irving. Das Neue bei Dickens lag bei den „Scenes“. Hier ein paar typische Titel:


The Streets – morning
The Streets – night
Shops and their Tenants
Scotland Yard
Seven Dials
Meditations in Monmouth-Street
Hackney-coach Stands
 London Recreations …

Dickens skizzierte das das Londoner Straßenleben. Er machte den Alltag der Londoner zu einem würdigen Gegenstand des Skizzierens. Child folgte ihm darin.

Auch in den „Tales“ finden sich einige Vorbilder:

The Boarding-house
Mr. Minns and his Cousin
Sentiment
The Tuggses at Ramsgate
The Steam Excursion
Mrs. Joseph Porter
A Passage in the Life of Mr. Watkins Tottle
The Bloomsbury Christening
 The Drunkard's death ...

Wie man sieht waren die Übergänge von Charakterskizzen zu Erzählungen auch hier fließend. Der narrative Anteil wurde erhöht, doch der Charakter und ein oder zwei seiner Relationen (Cousin, Ehepaar, Gäste) bleiben im Mittelpunkt. In den Szenen geht es eher – wie in „Little Britain“ bei Irving oder in Georgia bei Longstreet – um Sitten und Gebräuche: die Tanzakademie, das Krankenhaus, das Gefängnis und wie immer das Weihnachtsfest. Die Unschärfe der (nachträglichen) Klassifikation von Skizzen macht eher deren Stärke aus: Skizzieren blieb auch bei Dickens ein Experimentierfeld, eine Vorübung zu seinen Romanen. The Pickwick Papers schrieb Dickens im Auftrag zu Illustrationen von komischen Stichen. Viele seiner späteren Romane sind bis heute fest mit deren Illustrator G. Cruikshank verknüpft.

Child musste noch ohne Illustrationen auskommen. Wie wir gesehen haben bildeten sie einen erheblichen Kostenfaktor. Doch die Gesellschaftskritik, die Mischung aus Sentimentalität und Melodrama, die Parteinahme für die Armen hatte Child bei Dickens vorgefunden („A Visit to Newgate“).

Doch Child begann bereits, auf dem langen Weg zum Realismus über Dickens hinaus zu gehen. Zwischen 1836 und 1843 war etwas entscheidend Neues entstanden, was die romantische Imagination und das Skizzieren auf Dauer verändern sollte: die Fotografie (Wersing 1995).

Child reflektierte über Bilder und Imagination:

Is your memory a daguerreotype machine, taking instantaneous likenesses of whatsoever the light of imagination happens to rest upon 7 I wish mine were not; especially in a city like this-unless it would be more select in its choice, and engrave only the beautiful. Though I should greatly prefer the green fields, with cows, chewing the cud, under shady trees, by the side of deep, quiet pools-still I would find no fault, to have my gallery partly filled with the pal-" aces of our 'merchant princes,' built of the sparkling Sing Sing marble, which glitters in the sunlight, like fairy domes; but the aforesaid daguerreotype will likewise engrave an ugly, angular building, which stands at the corner of Division-street, protruding its sharp corners into the midst of things, determined that all the world shall see it, whether it will or not, and covered with signs from cellar to garret, to blazen forth all it contains. 'Tis a caricature likeness of the nineteenth century; and like the nineteenth century it plagues me; I would I could get quit of it. (I.13)

Teure Stiche führten bei Landschaften und Portraits zur ästhetischen Vorauswahl: sie mussten pittoresk oder repräsentativ sein. Hässliches ließ man eher weg. Die Fotografie verbilligt das Portrait. Bald konnte man in New york sich für einen Dollar Portraits als Tintype kaufen. Eine Haupteinnahmequelle von Grafikern fiel weg. Im kommenden Bürgerkrieg wurden die professionellen Skizzierern (in Wort und Bild) durch Fotografen wie Mathew B.Bradey verdrängt. Und die Landschaftsfotografie trug das ihre dazu bei, nach dem Bürgekrieg Indianer und den „Wilden“ Westen (verdeckt: den Westen der Wilden) in die Presse zu tragen. Wie wir am Beispiel von Phoenixiana in Kalifornien sehen werden, leitet das verbilligte Drucken von Fotografien eine neue Massenpresse ein: das Illustrierte Magazin. Doch an die Seite der Landschaft trat bereits um 1842 die städtische Szene, die Straßenszene. Die Industrie begann, die Landwirtschaft zurück zu drängen oder dem Kapital zu unterwerfen. Die Eisenbahn half, beides zu befördern.

Wie die Eisenbahn mittels des Hauptbahnhofs drang die Straße der Großstadt in die Imagination der Skizzierer ein. Sie wird nicht mehr aus den Skizzen zu verbannen sein. Das Skizzieren urbanisierte sich mit der Fotografie. Noch Truman Capotes späte Local Color (1950) Skizzen tragen noch die Spuren von Dickens: die Pension, die Straßen, die Eisenbahn, schrullige Einzelgänger usw. Aus den Gefängnisbesuchen von Dickens und Child entsteht in Cold Blood (1966) und die modernen Gefängnsiliteratur (prison writing) von Mailer, Malcolm X u.a. (Franklin 1978).

So bahnte die Sketch-Story um 1840 nicht nur den Weg zur Short Story (Poe, Hawthorne) sondern auch zum Realismus und Naturalismus (Dickens, Child) in der Erzählkunst. En letztes Beispiel aus den Letters from New York. Es geht um den Besuch einer verfallenen Kirche. Durch ihr Dach wächst ein Baum. Ein Sinnbild für eine ganze Gesellschaft:


The Deserted Church

The rapid ruin and the unbroken stillness seemed so much like a work of enchantment, that the travellers named the place The Hamlet of the Seven Sleepers. At the next inhabited village, they obtain ed a brief outline of its history. It had been originally settled by wealthy families, with large plantations and numerous slaves. 148 … 

Mr. Faulkner, of Virginia, has stated the case impressively: "Compare the condition of the slave-holding portion of this commonwealth, barren, desolate, and seared as it were by the avenging hand of Heaven, with the description which we have of this same country from those who first broke its soil. To what is this change ascribable? Alone to the blasting and withering effects of slavery. To that vice in the organization of society, by which one half its inhabitants are arrayed in interest and feeling against the other half; to that condition of things, in which half a million of your population can feel no sympathy with society, in the prosperity of which they are forbidden to participate, and no attachment to a government at whose hands they receive nothing but injustice. 

Wir werden Fotos solcher Kirchen bei Walker Evans (1941) wieder treffen. Zugleich eine Blume von Lydia an William Faulkner.


Fact and fiction

Aus Childs Erfolg mit der Kolumne im National Anti Slavery Standard erwuchs der Versuch, ein breiteres Publikum in den USA zu erreichen, die Sammlung von Skizzen und Erzählungen mit dem Titel Fact and Fiction (1846). Das war mehr als nur Alliteration. Es ging Child darum, Fiktion und Tatsachen in einer Sammlung organisch durch korrespondierende Geschichten zu verbinden.

Letters war nicht nur voller Stories (Anekdoten und Geschichten) sondern auch voller Landschafts-Skizzen aus New York und Umgebung: Friedhöfe, Wald auf Staten Island, Parks, Ausflüge mit Bootsfahrt um Manhattan (wie später Djuna Barnes), gelegentlich ein Schneesturm (I. 38) usw. In einigen der Stories traten lokaler Sketch und Erzählung bereits zusammen. Am besten vielleicht in „The Little Boy that run away from Providence“, eine humorvolle Vagabunden-Geschichte, die auf dem Wortspiel im Titel beruht. Zugleich eine spielerische Variante der slave narrative.

Fact and Fiction enthält 15 Stories, die fast symmetrisch je eine Geschichte über Tatsachen mit einer erfundenen kontrastiert. Nummeriert man sie erhält man zwei Reihen: die geraden (Fiction) und die ungeraden (Fact) Geschichten. Fast in der Mitte (zwischen 6 und 7) gerät der Kontrast ins Wanken: ist „The Neighbor-in-Law“ (8) wirklich Fiktion? Nummer 12 ist eine Science-Fiction Story. Und was ist mit der letzten (15) über die beiden Quaker Brüder?

Man muss genauer hinschauen. Child gibt Hilfen in den Untertiteln oder ersten Sätzen: „A True Story“, „Fragments of a Life“ (2, 4,) oder „A Legend“, „Romance“ (5, 9). Doch dann gibt es Zweideutigkeiten: „Founded on Facts“ (7, 8), „Founded on an Indian Tradition“ (9,14). Und gegen Schluss fehlt fast jeder Hinweis: wie müssen selber entscheiden (oder recherchieren). Oder bis zum Ende der Geschichte warten, bevor Child ihre Quellen angibt wie in „Black Saxons“ (11), die beste der 15 Geschichten.

Immerhin zeigt die Fiktions-Reihe eine deutliche Progression von Mythos und Legende (1,3) über Melodrama (3) und allegorische Parabel (8) zu Romanze (9), Fantasie (12) und indianisch-christlicher Legende. In jeder Sketch-Story wechselt der Stil, doch immer geht es um Frauen in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. So kann man die Korrespondenzen auch vertikal lesen: Schicksale von Frauen durch die Jahrhunderte und deren fiktionale Darstellung. Wie verändern sich beide: zusammen oder getrennt.

Die Vermischung von Fakt und Fiktion wächst in der Sammlung und die paarweise Anordnung ermöglicht mehr als nur sieben Korrespondenzen. Kontrast, Ergänzung, Konsequenz, Verschiebung oder Drehung, Verallgemeinerung sind nur einige der möglichen Paarsysteme. Es gibt auch Tripel und Quadrupel. Sogar eine Träumerei (reverie), welche zugleich einen poetologischen Schlüssel für die andern Geschichten bildet.

Hier nur einige wenige Beispiele. Die Nachbarschafts- und Quaker-Geschichte (8, 15) zeigen noch deutlich Spuren des moral tale: eine gute und eine schlechte Person werden kontrastiert. (Mark Twain hat das mehrfach parodiert.) Aber in der ersten entdeckt die freundliche Nachbarin, Mrs. Fairweather, auch etwas Gutes an der geizigen Mrs. Hetty Turnpenny. Wie bei Dickens vermittelt ein Kind. Die allegorischen Namen täuschen, kein Mensch ist nur böse. Bei den rivalisierenden Quakerbrüdern geht es um Großmut und Selbstsucht. Doch auch da ist der „böse“ Bruder nicht nur schlecht, nur un-brüderlich. Der gute Bruder David Trueman trägt denselben Namen wie sein Bruder, und die Geschichte ist nicht nur eine moralische Allegorie, sie ist auch wahr. Beide Geschichten allegorisieren „Freundschaft“ wie es Fourier für eine bessere Gesellschaft empfohlen hatte. Brüderlichkeit oder oder Schwesterlichkeit (sisterhood) spiegeln sich ambivalent. Heute würden wir sagen Soldarität. So wirft die letzte Geschichte „The Brothers“ ein Licht auf alle vorhergehenden. sie fehlt (1, 3, ) oder vorkommt (2, 4) usw. Equality.

„The Quadroons“ und „The Irish Heart“ (3,4) kontrastieren direkt: wo die Schwester solidarisch ihrem irischen Bruder in die USA folgt, versagt ein Mann vor dem Rassismus der Georgia Nachbarn. Ethnische und rassistische Diskriminierung (beide Male durch US Gesetze abgesichert) kommentieren sich gegenseitig.

„A Legend of the Apostle John“ und „The Beloved Tune“ ergänzen das. Die reiche Jüdin Miriam darf den griechischen Platonisten Antiorus, der zum Christentum und Apostel neigt, nicht heiraten. Alessandro, der deutsch-italienische Einwanderer hat Schwierigkeiten, seine Familie in den USA mit Musik zu ernähren. Doch sein Liebeslied an seine Frau Dora wird sie beide überleben. Ihre Tochter Fioretta lernt es spielen und singen. Musik übernimmt die Rolle des Apostels.

Die wahre Geschichte von Alessandor und Dora wird in Fragmente zerlegt, d.h. in locker gereihte Szenen, die jeweils starke emotionale Tönung tragen. Child trägt dick auf: „In a pleasant English garden, on a rustic chair of intertwisted boughs, are seated two happy human beings. Beds of violets perfume the air, and the verdant hedge-rows stand stand sleepily in the moonlight. A guitar lies on the greensward, but is silent now …" Auge, Nase und Ohr werden mit Adjektiven bedient, und das „now“ weist auf kommende Entwicklungen hin. Eine idyllische Liebesszene im Stil der sunshine/shadow Schule sentimentaler Fiktion. Später kommen rührende Szenen, als er Dora zum ersten Mal sein Ständchen bringt, wie die Tochter das Lied lernt und vorspielt, Weihnachten und eine obligatorische Todesbettszene (mit Musik). Dieser Stil kommt auch in den fiktionalen Geschichten vor (1, 3, 9)

Dort wird sie aber auch gebrochen. In „Hilda Silverling. A Fantasy“ lässt sich Hilda von einem sonderlichen Professor einfrieren, statt hingerichtet zu werden (Verdacht auf Kindesmord). 100 Jahre später erwacht sie, macht sich auf die Suche ihrer Nachkommen, und ein Musikinstrument führt sie zu ihrem Urenkel in Norwegen, der sie überzeugt, es gäbe kein Gesetz, das verbietet, seine eigene 16 jährige Urgroßmutter zu heiraten. Sie tun es und leben immer glücklich danach. Fragmente eines Lebens etwas anders. Musik verbindet Kulturen, und Hilda wird in Norwegen herzlich aufgenommen.

Eingearbeitet in alle Geschichten – fiktiv oder nicht – ist das Ideal einer besseren egalitären Gesellschaft ohne Sklaverei und Rassismus (3, 11), Sexismus (1, 3, 5, 9, 12, 13) Armut und Ausbeutung (4, 6, 8, 12, 13) oder Diskriminierung von Fremden oder Minderheiten (2, 4, 6, 12, 13, 14). In vielen ersetzt die juristische Analyse die die Moralpredigt oder Beschreibung lokaler Sitten und Gebräuche. Wegen (unbewiesenen) Kindesmords werden zwei Frauen hingerichtet. Eine dritte wird in die Prostitution getrieben: sie hatte nie von Frauenrechten gehört (13). Wegen Abstammung von Sklaven und alten Rechtstitel wird ein junges Mädchen in Georgia verkauft und vergewaltigt. Eine indianische Frau, welche einen weißen Händler heiratet, verliert ihre matrilineare Rechte auf ihre Kinder (14). Wie bei Irving sind Legenden meist ein Betrug an Gläubigen, aber hier verdeckt die Legende eine Ungerechtigkeit durch Betrug. Hätte Rip van Winkle vor ein Kriegsgericht gehört?

„A Poet’s Dream of the Soul“ (10) scheint gar nicht in die Sammlung zu passen.

Es ist eine musikalische Träumerei über Seelenwanderung, welche uns über Jahrhunderte und Kontinente hinweg tragen. Eine Welt, als ein globales Biotop dargestellt aus Mineralien, Pflanzen, Tieren und Menschen, zwischen denen die Seele wandert, dabei aber Spuren der Erinnerung an frühere Existenzen mit nimmt. Seele als eine Art kollektives Unbewusstes. Die Seele findet zum Ende wieder nach Deutschland zurück, von wo sie ausgewandert war und schlüpft von einer Nachtigall, frisch aus Venedig, in ein verliebtes Ehepaar. Diese taufen ihren Sohn Felix Mendelssohn. Damit gibt Child die Quellen ihrer Träumerei preis: es sind vor Allem Mendelssohn-Bartholdys „Lieder ohne Worte“ (1832-45) nach denen Child (aus dem Gedächtnis) improvisiert, deutlich die drei Gondellieder, welche Rufe der Gondoliers in Venedig evozieren. Dies sind sogenannte „Charakterstücke“ der Musik, in denen besondere Emotionen und Assoziationen mit Gefühlen portraitiert werden. Die Nachtiglall lernte von ihnen. Hinzu kommen andere Titel der Programmusik, vom selben Komponisten (Fingal’s Cave, Mid Summer Night’s Dream, Feenmusik, das virtuose Klavierkonzert, Antigone etc.). In der achtteiligen Träumerei herrschen musikalische Motive und Variationen vor. Mit anderen Worten, Child versuchte hier, die träumerische Skizze von der Grafik ab- und der Musik zu zu wenden. Sie nimmt damit Tendenzen des Symbolismus am Jahrhundert-Ende (Lafcadio Hearn) und neue Kompositionstechniken im C20 vorweg. Bis zu Gertrude Stein (1923) und Heminways „Big Two Heart River I, II“ (1925) gibt es wenige so innovative Landschaftskizzen wie diese von Maria Lydia Child. Als eine andere wäre Thoreaus Landschaftsbeschreibung zu nennen nur aus gehörten Tönen montiert in Walden („Sounds“). Oder John Cages Landschaftsskizzen aus Radioempfänger.

In Letters hatte Child ein Konzert beschrieben, in welchem ein virtuoser Geiger die Landschaften von „Niagara“ und „The Prairies“ im Programm hatte (II.30). Landschaftskizzen in Tönen. Musik zum Träumen. Musik hatte für Child offensichtlich eine besondere Resonanz (Rosa 2020, 160-64).

Dieser Traum von einer Seele gehört sicher zu den Fiktionen, obwohl Child einem Teil der Swedenborgschen Fantasien Glauben zu schenken scheint. In Letters legte sie wiederholt dessen Theorie der spirtuellen Korrespondenzen dar (I, 26; II, 12). Eine Geisterwelt endloser Analogien, in der auch Blake sich zu Hause gefühlt hatte. In dieser spielt Musik eine besondere Rolle. Sie öffnet dem Dichter Zugang zu einer besseren Welt voller Gleichheit. Die Reverie endet auf dem Satz: „"he will pass into more perfect life, where speech and tone dwell forever in a golden marriage."

In der Tat spiegeln die Korrespondenzen zwischen den Geschichten die goldene Hochzeit des Universums, wie sie Child wiederholt nennt, und eröffnen damit den Blick auf eine bessere Welt, welche die Dualität der Geschlechter und der Gesellschaftsbeziehungen versöhnt und auf die Basis allgemeiner Solidarität (Fourier in I,xx) stellt. Spiritismus gehörte in den vierziger Jahren mit zu den Fantasiewelten, über welche sich Poe laufend lustig macht, aber die Korrespondenzlehre von Swedenborg inspirierte hier Child, eine Sammlung von Geschichten neuartig so zu komponieren, so dass ästhetisch ein Geflecht von Themen und Motiven zwischen den Teilen entstand und damit die Dualität von Fakt und Fiktion, von Realität und Traum zu verbinden. Einige ihrer Texte erschienen in The Voice of Industry, der Arbeiterzeitschrift. Andere in wie „Scenes from a True Story“ (1858) in Atlantic Monthly

Skizzieren war nur eine Episode in der lebenslangen Reformarbeit von Child. 1865 gab sie ein Lesebuch heraus für befreite Sklaven, denen sie auch ihre eigene Geschichte von den „Black Saxons“ aus Fact and Fiction anbot, eine ethnische Spiegelung des sächsischen Widerstands gegen die Normannen durch den Aufstandsversuch afroamerikanischer Sklaven im Süden. Eine Spiegelung wie in Benjamins Franklins satirischem Erlass „A Prussian Edict” (1773). Das ging wiederum über Voltaire bis auf den Spectator (1712) zurück.

Nach acht Jahren Arbeit veröffentlichte Child eine dreibändige Geschichte der Religionen von Indien bis zur Katholischen Kirche, in welcher sie die ganz unterschiedlichen Rollen von Frauen in Kult, Priesterschaft und Vergötterung verglich. Ähnlich ausführlich ihre Geschichte der Frauen im Jahre 18xx.

Schauen wir kurz zurück. Irving hatte im Sketch Book (1820) Skizzen teilweise kontrastierend zuThemen zusammengestellt: die beiden Typen von Hausfrauen, Klein-England in London und das englische Dorf, Indianer-Häuptling und John Bull als Nationalcharaktere und so unter anderen das internationale Thema von H. James vorbereitet: die USA auf Augenhöhe mit England. Poe hatte sein Haupthema, die Rückführung der romantischen Imagination auf das Unbewusste in zwei Reihen seiner Sammlung konfrontiert: die Arabesken als Kippfiguren gegen die Grotesken als Begegnung mit dem Teufel. Bon-bon und und der Gatte von Ligeia haben etwas gemeinsam, aber die Konfrontationen bleiben sporadisch und müssen teilweise weit hergeholt werden. Poe hatte zunächst eine altmodische Rahmenerzählung à la Boccaccio oder Spectator geplant. Immerhin hatten die beiden Autoren zwei unterschiedliche Modelle für die Sammlung von Skizzen und Erzähungen entworfen:

- die dominierende Sketches und Tales Tradition des Lokalkolorits und

- die Arabesken und Grotesken Tradition, die erst wieder bei Ambrose Bierce auftaucht, dann aber die Moderne in Cane (1923), The Hamlet (1941) oder Jazz (1992) ergreift.

Lydia Maria Child - zu wenig beachtet – verband beide Modelle. Die lockere von Irving und die duale von Poe. Die erste ließ nachträgliche Sammlung zu, die zweite erforderte ein gewisses Maß an Planung für die Buchsammlung. Ersteres erlaubte die freie Mischung von Fiction (Story) und Realismus (Sketch), die zweite erforderte eine Art von Doppelgängertum vom Autor: Horror und Lachen ließen sich auf die selbe Wurzel zurückführen: das Unbewusste. Das Unheimliche der Arabesken und das Teuflische der Grotesken muten uns beim Lesen einen hohen Grad von detektivischer Kombinationsfähigkeit – ratiocination – zu. Bei Bierce war es der Kontrast von Soldaten und Zivilisten (1891).

Child packte nun Beides zusammen: Mischung von Fiktion mit Fakten und Kombination von Kontrasten. Die lokalen Skizzen wurden zu Szenen eingeschmolzen. Sie zerlegte die Geschichten in Szenen von Dialog und Handlung, stattete aber die wichtigsten mit eindrucksvollen (imaginierten) Kulissen aus. Höhepunkt die Verschwörung auf einer Sumpfinsel zum Sklavenaufstand: "a scene of picturesque and imposing grandeur" ( in „Black Saxons“ einer der Tatsachengeschichten.) Child kommentierte diese Methode, Fact and Fiction zu mischen: "I have told it truly, with some filling up by my imagination, some additional garniture of language, and the aportion of fictitious names, because I have forgotten the real ones."

Imagination und Fiktion spielt auch in den anderen Tatsachengeschichten eine Rolle. Und zwar bei den Charakteren. Susans Bruder nennt seine sterbende Schwester, eine Prostituierte zum Trost mit ihrem Kindheitsnamen, welcher der Geschichte ihren Namen gibt: „Rosenglory.“ In „Elizabeth Wilson“ betrachtet die Mutter ihre Kinder gefühlvoll durch Fenster: "It was the only picture the poor woman had; but none of the old masters could have equalled its beauty." Genremalerei als Illusion. Elizabeth wird geisteskrank und als Kindesmörderin gehängt. In „Fragments of a Life, in Small Pictures“ hält eine erfundene Musik die Familie gegen alle Widrigkeiten (Sonne und Schatten) zusammen. In der Reverie über die Seele (10) benennt Child ihr Prinzip der Vermischung von (vermeintlichen) Gegensätzen aus Swedenborg ab: „some perfect union of Thought and Affection, a marriage between some of the infinitely various manifestations of this central duality of the universe." Fiktion und Imagination sind als Illusionen Teil unseres alltäglichen Lebens. Ein zentrales Thema des emergenten Realismus.

Childs Beitrag zur Entwicklung der Sketch-Story und ihrer Sammlung war nur kurz, aber dieser ist darin ebenso ein Meilenstein wie der von Poe und Hawthorrne.


 

POE

Irving nahm sich Scott zum Vorbild. Hawthorne kam von Bunyans Pilger-Allegorie her. Poe begann mit Gedichten unter dem Einfluss von Byron. Auch seine frühen Prosaskizzen zeigen viel von Byrons Exotik und melodramtischen Helden wie Manfred (1817) Cain oder (1821). Doch bald traten andere Muster hinzu: das Doppelgänger-Motiv von E.T. Hoffmann (und J. Paul), die Teufeleien (diableries) von Voltaire, das Undine-Schema der zwei Ehefrauen, der gotische Schauerroman usw. Poe las umfassend, nutzte Enzyklopädien, Sammelwerk von Kuriositäten (Disraeli), machte sich umfangreiche Randnotizen (gesammelt in Marginalia), er rezensierte regelmäßig, vermischte und versteckte seine Entlehnungen bis zur Unkenntlichkeit. Poe war auch ein genialer Plagiator. Er plagiierte meist Schemata, nicht Prototypen.

Zunächst hatte er wie Hawthorne geplant, seine Geschichten in einem Erzähler-Rahmen zu stellen. Der sogenannte Folio Club von Erzählern erinnerte nicht nur an Irvings Knickerbocker sondern auch an den Prototyp im Spectator. „Silence. A Fable“ (1832/1836) war zeitweise als eine der Erzählung aus dem Folio Club gedacht. Sie trug ursprünglich den Titel „Siope. A Fable“ und trug den Zusatz: „[In the manner of the Psychological Autobiographists], gab sich also deutlich als Pastiche englischer Vorbilder aus. Bulwer Lyttons „ Monos and Daimonos. A Legend“ ist als eine Quelle identifiziert worden. Weitere Anspielungen deuten auf Beckford, De Quincey und Byron. Durch das Weglassen des Zusatzes hat sich die Verrätselung des Textes enorm erhöht. Seine Interpretation ist sehr umstritten. Ist es eine Landschaftskizze oder ein Portrait eines Mannes oder eine Horrorszene? Es ist sicher keine Fabel im herkömmlichen Sinn.

In 14 Paragraphen erfahren wir Folgendes. Auf einem Felsen in Afrika steht ein Mann und betrachtet die bewegte Landschaft um ihn herum: ein Fluss, mit Wasserlilien, ein angrenzender Wald mit hohen Bäumen und Wind. Der Fels trägt die Inschrift „Desolation“ (2-6).

Ein Dämon betrachtet den nun sitzenden Mann und versucht, ihn durch noch mehr Bewegung und Lärm in der Landschaft zum Handeln zu zwingen: Flusspferde, Sturm, Blitz und Donner. Vergeblich. Da stößt der Dämon einen Fluch aus und lässt die Natur um ihn verstummen: Der Fels wechselt seine Inschrift zu „Silence.“ (ein Motiv aus Vathek von Beckford). Der Mann erhebt sich und flieht in Terror. (7-13)

Dies Alles erzählt der Dämon dem Erzähler des Rahmens und legt ihm dabei die Hand aufs Haupt. Beide sitzen vor einer Gruft, aber der Erzähler känn über die „Fabel“ nicht lachen. Der Dämon verflucht ihn und stürzt sich in die Gruft, wo er von einem Luchs beäugt wird. (1 und 14)

Der Titelzusatz und die Anspielungen (auch auf Poes eigene frühen Gedichte) erlauben einige Vermutungen über die Verrätselung. Liest man den Titel (griech. „Schweig!“) als Anagramm erhält man „is Poe“ oder „Poe Si“ vielleicht ein Hinweis auf autobiograpische Züge beim Protagonisten: „ist“ er Poe oder schafft Poe „Silence“? Warum tut er nichts, warum ist er verlassen, warum schreckt ihn das Schweigen? Wenn die Natur schweigt, wer schweigt dann?

Ein weiterer Hinweis kommt aus dem Rahmen. Der Erzähler hält die Fabel für eine der tiefsinnigsten Geschichten im Stil der persischen Weisen (also TausendundeineNacht?) weigert sich aber über den Dämon zu lachen. Warum? Er sitzt neben einer Gruft und deren Parallele zum Felsen eröffnet weitere Antworten auf das Rätsel: die Beziehung der beiden Männer zum Dämon. Poe verdoppelt die dämonische Verfluchung im Urwald mit der vor der Gruft. Beide sollen eine seelische Veränderung hervorrufen: von „desolation“ zu „silence“ oder von „terror“ zu „laughter“. Beide versagen. Der Dämon zieht sich lachend zurück, bleibt aber unter Beobachtung. Der Luchs übernimmt die Rolle des Dämon in der Fabel. Der Erzähler des Rähmens flieht nicht.

Es geht also um komplexe, ja widersprüchliche psychologische Vorgänge, welche dadurch nicht leichter abzulesen sind dadurch, dass der Dämon während seiner Erzählung die Hand auf den Kopf des Erzählers (welcher zur Zeit Zuhörer ist) legt. Trauert der Erzähler um eine Verstorbene (eine Annabelle Lee z.B.) und steht die Stille für ihre ewige Abwesenheit. Hat der Mann auf dem Felsen vielleicht Inzest mit seiner Schwester beganngen und ist im Augenblick bereit wie Manfred auf der Alpenspitze der Jungfrau sich in den Tod zu stürzen? Oder wartet er wie Cain am Ende von Byros Drama auf einem Felsen auf das Ansteigen der Sintflut, welche durch durch seinen Brudermord ausgelöst wurde? Ist er ein einsamer Rebell? Wer Byron gelesen hat, bring diese Deutungen mit, wer Bulwer Lyttons Dämonengeschichte andere. Wer Griechisch kann, versteht den Titel.

Es gibt noch eine Spur: die Landschaft selbst. Ihre Bewegungen symbolisieren die des Mannes auf dem Felsen, ihre Zweiteilung ihre horizontale und vertikale Gliederung, ihre Farben und Geräusche. Wir haben hier eine durchweg symbolisierte Landschaft in Prosastrophen. Poe übertrug seine poetischen Techniken auf die sorgfältige Konstruktion von Paragraphen, deren Inhalte in komplexe Beziehungen zu anderen Paragraphen stehen. Man vergleiche den Paragraphen-Bau von „Siope“ mit der von „A Country Church“ bei Irving oder der von „Steeple“ bei Hawthorne. Poe orchestriert die Farben, Klänge und Bewegungen seiner Landschaft zu speziellen (surrealen) Effekten, einer Fantasie, welche sich zum allmählichen Crescendo von Emotionen, seelischen Bewegungen zusammensetzen.

Wenn die „psychologischen Autobiographen“ wie Bulwer Lytton, Hunt und De Quincey die Gefühle ihrer Protagonisten in symbolischen Landschaften spiegeln, wir die emotionalen Kurven der Protagonisten beim Lesen nicht nur begleiten sondern nachvollziehen, dann kommt eine weitere Verdopplung zum Vorschein. Wie der Dämon mit dem Erzähler/Zuhörer verfährt, manipuliert Poe uns beim Lesen. Wie der Dämon den Trauernden zum Lachen bringen will, stößt uns Poe am Ende vor dem Kopf: ist die Geschichte nur ein Spiel (hoax) mit unseren Gefühlen? Trauer (sorrow), Schrecken (terror), der Fluch der Selbstbeobachtung und dann die Flucht oder das Lachen könnten unsere Reaktionen sein. Oder geht es um das Scheitern von Poes Versuchen, uns zum Zittern und Lachen zu bringen? Nilpferde und Theaterdonner? Ist es der Dämon, welcher mit überholten orientalischen „Fabeln“ vor uns scheitert?

Damit sind die Grundprinzipien der Skizzen und Erzählungen von Poe benannt: nicht nur Verdopplung von Figuren und Szenen sondern auch der Psyche der Protagonisten und Erzähler; sie alle haben eine zweigeteilte Seele (bi-part soul), wie es Dupin später nennen sollte (Jaynes 1976). Die Seele ist nicht nur zwiegespalten, sie ist auch widersprüchlich, antagonistisch. Der Dämon (wie später die Teufel in Poes Grotesken) ist das Unbewusste, welches wie bei Hawthorne aus den Kellern und Gruften steigt. Horror und Gelächter gehen zusammen wie bei Callot oder Goya. Und wenn die Räume in denen sich Poes Figuren bewegen (das sensible Haus von Usher, das Sterbezimmer von Ligeia, das Mordzimmer in der Rue Morgue usw.) ihre Emotionen spiegeln, dann tragen sie auch zu der tiefen Spaltung ihres Bewusstseins bei. Der versteckte Brief (oder Buchstabe) könnte laut Dupin offensichtlich sein.

Poe fügte also dem Erzählen und Skizzieren die einfache Form des Rätsels hinzu. Er führt eine komplizierte kognitive Wende in beiden herbei: von der Schatzsuche über den Mordfall bis ins Irrenhaus. Eine späte rätselhafte Skizze wie die über „Landor’s Cottage“ (1849) hat Jahre später die französischen Symbolisten begeistert und Mallarmé zu einer Übersetzung bewegt. Sie nimmt den Symbolismus voraus.


Kirkland

Der verspätet nahende Realismus in den USA kam nicht aus dem Roman, sondern verdankt viel den Skizzen aus der Westexpansion und der beginnenden Fabrikarbeit. Denn zunächst dominierten weiter die Romantik und Walter Scott im Roman.

Als eine der ersten Autor:innen bemühte sich Caroline Kirkland in ihren Skizz en um mehr Realismus. Aufgrund eines früheren Buches hatte sie Michigan verlassen müssen: die Nachbarn waren empört. Bereits A New Home – Who‘ll Follow (1839) sprengte die Home and Jesus Formel Neuenglands. In Western Clearings (1844) mischte Kirkland kritische Essays („The Land Fever“), h umorvolle Skizzen (in „Ambuscades“ wird ein Western-Held und Jäger von ledigen Frauen verfolgt) mit einigen Stories zur Partnerwahl. Wie Jane Austen zeigt Kirkland ein großes Interesse am Heiratsmarkt und entwirft Skizzen zu den entsprechenden Sitten und Gebräuche an der Grenze. Immer geht es dabei um Vermögen, Grundstücke oder Rang. Fast nie um Liebe, die Eroberung eines Partners ist eher eine Lebensversicherung. Ein polemisches Gegenbeispiel zu “Uncle Lu” bietet „Chances and Changes, or, Clerical Wooing“. Die Skizze beginnt mit einer detaillierten Beschreibung einer Dreschmaschine als eines Abgesangs auf ländliche Idylle. Dem einleitenden Zitat aus einem Cowper Pastoralgedicht folgt diese Beschreibung:


The threshing-machine has superseded all slower modes of extracting the grain from the ear; and though a "machine" has a paltry sound, the operation of this mighty instrument gives rise to scenes of the greatest animation and interest. Half a dozen horses and all the stout arms of the neighborhood are kept busy by its requisitions. One of the more active youths climbs the tall stack to toss down the sheaves; the next hand cuts the "binder," and passes the sheaf to the "feeder," who throws it into the monster's mouth. round goes the cylinder, at the rate of several hundred revolutions in a minute, and the sheaf comes from among the iron teeth completely crushed; the grain, straw, andd chaff in one mass, but entirely detached from each other - the work of a whole day of old-fashioned threshing being performed in a few minutes. Several persons are busied in raking away the straw from the machine as rapidly as possible; and shouts and laughter and daring movements testify to the excitement of the hour. A day with the machine is considered one of the most laborious of the whole season; yet it is a favourite time, for it requires a gathering, which is always the signal for hilarity in the country. (96)


Ein gutes Beispiel für das Auftauchen der „Maschine im Garten“ (Leo Marx 1964), das Eindringen der Industrialisierung in die Landwirtschaft ab 1844. Einerseits ist die Maschine ein gefährliches Monster, führt zu extremer Arbeitsteilung, Intensivierung und Beschleunigung der Arbeit, andererseits macht sie Spaß, schafft Fröhlichkeit und Geselligkeit in der Landbevölkerung. Das alles lässt Theokrits Hirten mit ihren Wettgesängen weit hinter sich.

Dann macht Kirkland einen überraschenden Schritt: sie stellt einen Bezug zur folgenden Geschichte über ihr Kernthema her: „The ’making a business’ of marriage … without previous acquaintance between the parties.“ Ein junger Pfarrer, offensichtlich mit Bedarf für eine junge Frau, spricht ein Mädchen an, verwechselt sie beim ersten Besuch mit deren Zwillingsschwester und heiratet diejenige, welche dann ihr Vater, ebenfalls Geistlicher, vorschlägt. Die andere bekommt einen Farmer. Das Alles in Windeseile. Kirkland verteidigt ihre unerwartete Wende von Dreschmaschine und Eheschließung so:

"A slender thread serves sometimes to string female reveries, and it is doubtless best they should not aim too much at ‘consecution of discourse,’ lest they be accused of lecturing. I shall tell my little story ‘promiscuous like,’ claiming my feminine privilege." (97) Die Promiskuität bezieht sich auf die vorher erwähnte Sprachmischung an der Grenze wo sich Schotten, Iren, Englander und Yankees mischen und sich zu verständigen lernen, und der zarte Faden spinnt sich von der Sprachmischung über den Heiratsmarkt hin zur Erzähltechnik. Zusätzlich maskiert sie ihre Polemik als romantische Träumerei (reverie) wie sie Hawthorne und Poe praktizierten. Konsequent mischt auch sie Bezeichnungen Skizze und Geschichte (story) in ihrewn Texten.

Wenn Heiraten eine schnelle Geschäftsabwicklung wird wie „making a business“ oder Beschleunigung des Arbeitsvorgangs beim Dreschen dann wird die feminine Schreibweise des Mischens (Collage) eine mögliche Abwehr von Tendenzen der Industrialisierung und Verdinglichung von menschlichen Beziehungen. Die Auswechslung der Schwestern entwertet beide. Frauen werden zu austauschbaren Waren. Beschleunigung durch technischen Wandel bringt Zufallsentscheidungen. In der Tat lässt sich die Arbeitsteilung bei der Verwertung von Töchtern in diesen Grenzdörfern mit der Fließband-Verarbeitung durch Binder und Fütterer im Detail nachvollziehbar vergleichen. Das Patriarchat in Kirche und Familie verfügt über Gattinnen und Töchter. Die dörflichen Geselligkeiten und Feste - so breit und oft in Western Clearings beschrieben – werden zu Geschäftsbörsen, die Dialoge zwischen zukünftigen Partner zu schnellem Strohdreschen. Der Gegensatz zu Beechers „New-England Sketch“ von 1834 ist deutlich.

[Zusammen mit anderen Lokalskizzen zu Neuengland, dem Süden und dem Mittwesten legten diese drei Autorinnen – Kirkland, Child, Cary regionale Grundsteine für eine Nationalliteratur mit realistischen Zügen nach dem Bürgerkrieg. Ihre männlichen Konkurrenten im Geschäft des Skizzierens – Nathaniel Willis, Donald Mitchell und George Curtis hatten zwar einflussreichere Positionen in den Zeitschriften, wagten aber weniger Realismus als die Frauen. Sie hielten sich vorwiegend an sentimentale oder humoristische Reiseskizzen, welche die Lage von Frauen auf dem Lande eher verdeckten, eine Tradition, welche über Swallow Barn oder Georgia Scenes bis zu Irving zurückging (Douglas 1977, 236 f.). ]

Einen ganz anderen Regionalcharaker zeichneten die Schriftsteller des Südens. Der bestand damals vor allem aus den Staaten des alten Südwestens.

Thorpe

Ein wirksamer Beitrag zur Konstruktion eines Regionalcharakters kam aus der Zeitschrift Spirit of the Times. Thomas Bangs Thorpe hatte dort eine sehr erfolgreiche Skizze über einen Bienenjäger veröffentlicht, und zwar unter dem Aspekt des Sportes. (Die Zeitschrift war unter dieser Rubrik, auch turf genannt, bekannt geworden).

Thorpe ließ unter dem Titel Mysteries of the Backwoods (1846) einen Skizzenband folgen, in dem er die Jagd auf Alligatoren, Fische (mit Pfeil und Bogen), Büffeln, Wildkatzen usw. beschreibt. Darin enthalten, auch einige ausführliche Charakterisierungen von Helden wie Mike Fink oder David Crockett. Was sie zusammenbringt ist nicht nur die Jagd, sondern auch das Erzählen darüber: die Lügengeschichte (tall tale). Vieles daraus entstammt der regionalen Folklore. Damit stützt Thorpe wiederholt die These der demokratischen Überlegenheit der USA über England, der adligen Fuchsjagd zum Beispiel. The Spirit of the Times imitierte eine englische Zeitschrift und richtete sich vor allem an die Pflanzer-Oberschicht des Südens, deren eigene Vorliebe beim Pferderennen lag.

Drei dieser Skizzen sind besonders folgenreich für die weitere Entwicklung der Sketch-Story geworden:


"The Missisissippi" ist eine Prosa-Hymne über den "Big Old River" (Etymologie) und sein Wasser (muddy water) und seine Gefahren. Das Motto der Skizze zeigt exemplarisch auf, wie die Legendenbildung über Amerika fortschreitet. Thorpe erklärt regionale Wörter wei sawer und zitiert dabei Autoritätren:

Such are the "cut-offs," "rafts," "sawyers,'* and "snags" of the Mississippi ; terms significant to the minds of the western boatman and hunter, of qualities which they apply to themselves and their heroes, whenever they wish to express themselves strongly, and we presume the beau ideal of their political character with them, would be one who would come at the truth by a " cut-off," separate and pile up falsehood for decay, like, the trees of a "raft," and do all this with the politeness of a " sawyer," and with principles unyielding as a "snag."

Wenn Mark Twain eine seiner Figuren Tom Sawyer nannte, konnte er auf eine Teil seiner Leserschaft rechnen, welche dessen Charakter einschätzen konnte. (to huckleberry hieß bei Jugendlichen soviel wie ‘Schule schwänzen’). Urbane Leser:innen lernten neue Wörter. Die englische Sprache in den USA begann sich zu amerikanisieren. 

"Pictures of Buffalo Hunting" skizziert die Büffeljagd als einen (blutigen) Sport und preist die Prärien als eine sublime amerikanische Landschaft:


Standing on one of the immense prairies of the « south-west," you look out upon what seems to be the green waving swell of the sea, suddenly congealed, and it requires but little fancy to imagine, when the storm-cloud sweeps over it, and the rain dashes in torrents against it, and the fierce winds bear down upon it, that the magic that holds it immovable may be broken, and leave you helpless on the billowy wave. On such an expanse, sublime from its immensity, roams the buffalo, in numbers commensurate with the extent, not unfrequently covering the landscape, until their diminishing forms mingle in the opposite horizons, like mocking spectres. Such is the arena of sport, and such in quantity is the game.


(Margaret Fuller war weniger beeindruckt gewesen). Doch die Prärien gehören seit William C. Bryants berühmten Gedicht fest zur nationalen Landschaft dazu. Sublim wird gegen pittoresk ausgespielt. Vergleiche überlagern sich: Meer, Geister, ‚Sport‘ (hier im Sinne von ‚Jagd‘).

Für den Süden fügt Thorpe noch eine weitere Landschaft hinzu: den Sumpf als typisch für den Süden. "Alligator Killing" beginnt legendär:


In the dark recedes of the loneliest swamps, in those dismal abodes where decay and production seem to run riot; where the serpent crawls from his den among the tangled ferns and luxuriant grass, and hisses forth its propensities to destroy unmolested ; where the toad and lizard spend the live-long day in their melancholy chirpings; where the stagnant pool festers and ferments, and bubbles up its foul miasma; where the fungi seem to grow beneath your gaze ; where the unclean birds retire after their repast, and sit and stare with dull eyes in vacancy for hours and days together;
 there, originates the alligator; there, if happy in his history, he lives and dies.

Syntaktische Klimaxbildung wie in der deutschen Empfindsamkeit von „Die Leiden des jungen Werthers“, aber ohne Klopstock. Sensualismus sensationell aufbereitet. Seit Bartrams dramatische Szene eines Alligatorüberfalls gehörte dieses Tier fest zum Biuldrepertpoire des Südens.

Drittens die Bärenjagd, ein weiterer Bestseller unter den Skizzen von Thorpe. "Grizzly Bear Hunt" entwickelt aus dem schon sprichwörtlichen Jägerlatein („jemandem einen Bären aufbinden“) wurde zum Prototyp aller legendären Bärenjagden bis hin zu Go down Moses (1942). Der Bär ersetzte dem US-Ritter den mittelalterlichen Drachen. Nur 15 Jahre später sollte die Bärenjagd als feste Initiations-Episode der Helden in den Groschenromanen werden.

Thorpe porträtierte ausführlich Figur und Verhalten des Grizzly Bären, Vorlage für eine abenteuerliche Illustration im Buch. Er bezog seine Anregungen aus der Folklore, aber er skizzierte den Bären als Charakter. Über solche Skizzen drang die mündliche Legendenbildung wie schon bei David Crockett in die Literatur ein.

Fern

Childs Skizzen fanden bald Nachfolger. Eine der erfolgreichsten nannte sich Fanny Fern (Sarah Payson Willis) und sammelte ihre meist kurzen Skizzen unter dem Titel Fern Leaves (1853, 1854). Mit Illustrationen. Manches stammt aus dem Repertoire von Child (Straßenszenen, Kurzportraits, Rambling, Feiertage, Friedhöfe). Sehr oft geht es um (Ehe-) Männer, Kinder und Kleidung: „A Talk about Babies“, „The Little Pauper“, „How Husbands may Rule“, „The Passionate Father“, „Forgetful Husbands“, „Men’s Dickys never fit exactly“ „A Broadway Shop Reverie“ „Fashion in Funerals“ usw. Hier wiederholt sich vieles, wird als Fortsetzung angeboten. Fast immer geht es um Belehrung.

Die moralische Erzählung, das Exempel, wird hier zum Ratgeber für junge Ehefrauen, wie sie sich vor und nach der Hochzeit zu benehmen haben. Ratschläge versprechen Erfolg und Dominanz über Männern. Andere warnen vor fatalen Fehlern. Ein junger Ehemann bittet um einen Gefallen; sie schlägt ihm einen Handel vor. Ein anderer überrascht sie mit einem neuen Heim; die Leserinnen werden wohl wissen, wie man ihn belohnen kann. Das Hausmädchen klagt über zu viel Arbeit. Ein Kind schreit zu oft ...

Willis hat ein gutes Ohr: sie reproduziert Klischees, Dummheiten, Sprechweisen in Dialogen und Monologen. Ihr Blickpunkt ist deutlich der einer Frau aus der Mittelschicht. Als sie einmal über ein Reformhaus schreibt („Incident at the Five Points House of Industry“) lobt sie den Initiator, schildert aber die Umstände im Slum mit Abscheu der Personen. Die Gangs von New York waren dort zu Hause. Dickens und Child zeigten eher Verständnis, sogar Sympathie. Auch Willis milde Satire des Patriarchats wie ihren sozialen Ansichten decken sich nicht mit denen von Childs. Die Sammlung schließt mit einem guten Rat für Frauen: Proteste über fehlende Rechte helfen nicht. Stattdessen: "pursue the 'Uriah Heep' policy; look 'umble, and be desperate cunning. Bait them with submission, and then throw the noose over the will." Wieder ein Handel: Unterwerfung gegen Erbschaft. Ehe als Tauschgeschäft.

Fern schreibt flüchtig. Sie setzt auf schnelle Effekte. Eine Skizze über einen kleinen Jungen, der aus dem Fenster schaut, beginnt z. B. so:


" THE STILL SMALL VOICE.'

Poor tired little Frank ! He had gazed at that stereotyped street panorama till his eyelids were drooping with weariness.

Omnibuses, carts, cabs, wheelbarrows, men, women, horses, and children ; the same old story. There is a little beggar-boy driving hoop. Franky never drives hoop; - no, he is dressed too nicely for that. Once in a while he takes the air ; but Peter the serving-man, or Bridget the nurse, holds his hand very tightly, lest he should soil his embroidered frock. Now little Frank changes from one foot to the other, and then he creeps up to his young mamma, who lies half-buried in those satin cushions reading the last new novel, and lays his hand on her soft curls; but she shakes him off with an impatient ''Don't, Franky;" and he creeps back again to the window.


Die Ausrufungszeichen und Gedankenstriche sind typisch, der Bezug auf Kleidung ebenfalls. „Little“ ist ein Reizwort in fast allen Skizzen (es wird auch für Ehefrauen gebraucht). Es provoziert ein Kindchen-Schema bei den Leserinnen. Im zweiten Band kommt es 485 mal vor, auch oft im Titel. Männer nutzen es im Dialog, um ihre Frauen zu verkleinern. Dominanz durch Infantilisierung. Wir erinnern an den Witz mit Klein-Gerda und dem Springseil. Die Schülerin holt die Lehrerin vom Ross, indem sie impliziert, die Lehrerin wolle auch mal springen. „Lass ihr mal!“ Männer dominieren mit Infantilisierung von Frauen. Rassisten in den USA sagen zu erwachsenen Sklaven oder Dienern „Boy.“ Ungleichheit überall. CAGE.

Das drucktechnische Wort „Stereotyp“ hatte bereits die Skizze erreicht. Tatsächlich sind Ferns Beschreibungen voller Stereotypen. Hier passt die Sprache nicht zur Wahrnehmung eines kleinen Jungen im Vorschulalter. In jedem Absatz wechselt mit dem Tempus der beabsichtigte Effekt auf das Publikum. Der Junge fragt schließlich: „Muss ich sterben, Mutter?“ Das rührt die Mutter. Wohl auch die Leserinnen. Die Skizze endet mit vier Fragen der Erzählerin: „Death .. Death … Death .. Darkness, decay, - oblivion?„

Eine Mini-Predigt für junge Mütter, das Exempel von Frank durchsetzt mit emotionalen Effekten. Ein sentimentales Predigtmärlein in der Tradition von C. Mather: Bindung nur mit Furcht. Gleichzeitig scheint die Langeweile der Verfasserin durch: „the same old story“. Woche für Woche. Die wöchentliche Serialisierung der Skizze zur Kolumne führt zur Stereotypisierung von Sprache, Effektkontrolle und Wahrnehmung.

Das zeigt sich auch an den serialisierten Straßenszenen Ferns. Seit Dickens gehören sie obligat zur Lokal-Skizze:

City Scenes and City Life, No.1,
City Scenes and City Life, No.2,
City Scenes and City Life, No.3,
 City Scenes and City Life, No.4, 

Alle sind eher Vignetten, monotone Aufforderungen hin zu schauen; dazwischen kleine sentimentale Tupfer: “Papa is dead, and mamma is dead, too. Mamma can’t see Charley any more.” und dazu passende Bibelzitate. Die Frömmelei und Sentimentalität verstellen Willis die Sicht auf die Wirklichkeit, die Zusammenhänge menschlicher Konflikte. Armut und Kinderarbeit haben ökonomische Ursachen. Der Prototyp von „Little Britain“ wird trivialisiert.

THOREAU 

In eine ganz andere Richtung bei der Entwicklung des Skizzieren ging Henry Thoreau. Er arbeitete zeitweise als Landvermesser und trug stets ein Skizzenbuch mit sich. Auch er nutzte Skizzen als Quellen zur Arbeit, verlegte sich aber fast ganz auf lokale Skizzen. In seiner Gesamtausgabe überwiegen bei weitem die (lange unpublizierten) Notizbücher voller Beobachtungen, welche teilweise die für Öffentlichkeit verwendeten Abschnitte an Schönheit übertreffen. Thoreaus Bücher hatten auf dem Literaturmarkt seiner Zeit keine Chance. Der Plan, ein Buch nur mit Skizzen von Herbstblättern zu machen, griff seiner Zeit um 100 Jahre voraus.

Thoreaus frühe Skizzen zeigen vor allem seine genaue Beobachtungsweise. Sie kombinieren Freilicht-Buchnotizen mit biologischen Details (lateinische Pflanzen- und Tiernamen), geschmückt durch poetische Zitate oder philosophische Verallgemeinerungen. Das Skizzieren nähert sich dem Meditieren. Hier ein Beispiel aus A Week on the Concord and Merrimack River (1849): "It enhances our sense of the grand security and serenity of nature to observe the still undisturbed economy and content of the fishes of this century, their happiness a regular fruit of the summer."

Das Buch erwies sich als unverkaufbar, Thoreau musste fast die gesamte Auflage zurück nehmen.

Doch gelegentlich traf er in kürzeren Stücken wie „A Winter Walk“ (1843) einen Ton, welcher wie in Zeitlupe die Bewegung durch Satzbau und Tempus die fast traumhafte Bewegung des Beobachters festhält:


...We sleep, and at length awake to the still reality of a winter morning. The snow lies warm as cotton or down upon the window-sill; the broadened sash and frosted panes admit a dim and private light, which enhances the snug cheer within. The stillness of the morning is impressive. The floor creaks under our feet as we move toward the window to look abroad through some clear space over the fields. We see the roofs stand under their snow burden.


Nach Walden (1854), seinem Hauptwerk schrieb Thoreau noch einige Landschaftsskizzen, die seine neu gewonnene Sicherheit zeigen. „Walking“ (1859) ist ein Essay über das Spazieren. Er enthält Paragraphen von schlichter Schönheit. "Autumnal Tints" (1862) enthält eine Liste von rot, gelb und braun verfärbten Baumblättern, genau beschrieben und ästhetisch zu einer kontrastreichen Farbkomposition gefügt. Thoreau plante, daraus ein Buch zu machen mit dem Titel "October, or, Autumnal Tints". Es sollte nur aus gemalten oder konservierten Blättern bestehen, ein Bildband ganz aus Farben. Er verstarb vorher; einige späten Skizzen wurden postum in Excursions (1863) gesammelt, darunter auch eine, welche die farbliche Schönheit von wilden Äpfeln beschreibt. Hier abschließend ein Paragraph aus "Autumnal Tints", gerahmt wie ein Gemälde, aber explosiv wie ein Bild von Van Gogh:

As I go across a meadow directly toward a low rising ground this bright afternoon, I see, some fifty rods off toward the sun, the top of a Maple swamp just appearing over the sheeny russet edge of the hill, a stripe apparently twenty rods long by ten feet deep, of the most intensely brilliant scarlet, orange, and yellow, equal to any flowers or fruits, or any tints ever painted. As I advance, lowering the edge of the hill which makes the firm foreground or lower frame of the picture, the depth of the brilliant grove revealed steadily increases, suggesting that the whole of the inclosed valley is filled with such color. One wonders that the tithing-men and fathers of the town are not out to see what the trees mean by their high colors and exuberance of spirits, fearing that some mischief is brewing. I do not see what the Puritans did at this season, when the Maples blaze out in scarlet. They certainly could not have worshipped in groves then. Perhaps that is what they built meeting-houses and fenced them round with horse-sheds for. 

Purer Antipuritanismus. Scharlach, die Farbe der Sünde, der Prostitution und Ehebruch (The Scarlet Letter 1850), allegorisiert wie bei Bunyan. Hold your horses! In Emersons prototypischen Essay „Nature“ (1836) fehlte dieser Aspekt ganz. In den veröffentlichten Landschaftsskizzen leitete Thoreau zunehmend über zu einer wissenschaftlichen Naturbeobachtung. In Walden (1854) versammelte er vorwiegend Essays, welche sein Experiment des eigenständigen Überlebens in der Natur auswerten. Sie beruhen oft auf Freiluft Skizzen (wie bei Hawthorne). Thoreau hatte sich zunächst an den indischen „Waldbüchern“ der Upanischaden orientiert. Doch die vielfache Überarbeitung orientierte sich an der Lektüre von Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung (1845, 1846; sofort in den USA übersetzt und piratisiert). Alxander von Humboldt hat das Skizzieren in den USA nachhaltig verändert. Poe (Eureka 1848), Thoreau (Walden 1854) und Melville („The Encantadas“ 1856) zeigen tiefe Spuren der neuartigen „Landschaftgemälde“ von Humboldt. Die Berliner Kosmos-Vorträge (1827/28) hatten bereits Europe ein breites Publikum gefunden. Wichtiger noch: Charles Darwin nahm 1831 Humboldts frühere Werke auf seine Beagle-Reise, welche die Naturwissenschaften mit der Evolutionstheorie revolutionen sollte (Wulf 2015). Die Galapagos-Inseln und deren Vogelwelt sollten auch bei Melville eine herausragende Role spielen.

Walden bleibt eines der komplexesten und schwierigsten Bücher der US Literatur. Es blieb weitgehend ungelesen und wurde erst nach 1945 wieder entdeckt. Eher beiläufig erwähnte Thoreau im Kapitel xx, dass er seine zwei Jahre am Walden See (1845-45) für eine Woche im Gefängnis unterbrechen musste. Er hatte sich geweigert, seine Steuern zu zahlen an einen Staat, der einen imperialen Überfall auf Mexiko begangen hatte. Thoreau schrieb 1849 eine Kampfschrift darüber. Mahatma Gandhi stieß auf „Civil Disobedience“ und entwickelte daraus die Strategie des zivilen gewaltfreien Widerstands gegen den englischen Imperialismus in Indien. Das wiederum beflügelte Martin Luther King der damit die Bürgerrechtsbewegung im Süden der USA begründete. Die weißen Studierenden, die ihn dabei unterstützten, mit ihm in das Gefängnis gingen, lasen nicht nur „Civil Disobedience“ sondern auch Walden, das es inzwischen zu einer Variorum Ausgabe (wie Shakespeare) gebracht hatte. Damit nicht genug Resonanz. Aus Walden entwickelte sich in den 60er Jahren eine neue Umwelt-Bewegung, welche sich schnell von den Hippie-Kommunen zum Whole Earth Catalogue entwickelte. Mit Uncle Tom’s Cabin (1851-52) ist Walden (1854) vielleicht eines der einflussreichsten literarischen Werke aus den USA.

Das gilt aber nicht für die Entwicklung in der Sketch-Story selbst. Walden enthält zwar eine tiefe Resonanz auf die Entwicklung der Lokalskizze seit Irving. Aber es fand zunächst zu wenige Leser, um auf die Sketch-Story zu wirken. Erst Gertrude Stein, die sich mit ihrer Lebensgefährtin nach dem 1. Weltkrieg in Frankreich aufs Land zurück zog, scheint Walden sehr aufmerksam gelesen zu haben. Wie wir noch sehen werden, revolutioniert Thoreau aufmerksam und sorgfältig die Paragraphen-Konstruktion im Landschaft-Sketch, führt diese über das hinaus, was Irving in „The Country hurch“(1820) begonnen und Poe in „Landor’s Cottage“ (1849) vertieft hatte.

Die achtzehn Kapitel in Walden kondensieren und montieren Tagebuch-Einträge aus den zwei Jahren im Wald, nahe bei Concord, Massachusetts, wo Ralph Waldo Emerson und eine Reihe von Transzendentalist:innen lebten. Thoreau hatte 1846 einen Vortrag ausgearbeitet, der seiner Lebensweise ein ökonomisches Fundament legte. Diesen Vortrag arbeitete in einen Essay um, der dann das erste Kapitel von Walden werden sollte. Thoreau hatte also mindestens neun Jahre an dem Buch gearbeitet, bevor er es veröffenlichte. Es gab sieben Fassungen, die letzte völlig umgeschrieben (Wulf 2015, 326).

Walden war kein Skizzenbuch wie das von Irving. Es ging nicht um Reisen, sondern um extreme lokale Begrenzung: eine Hütte im Wald am Teich, wenige Quadratmeter. Es ging auch nicht um Porträts wie bei Stowe, sondern um Beschreibung von Natur, nicht von Landschaften oder Parks wie bei Irving oder Poe. Auch interessierte ihn das Kleinstadt-Leben (bis auf eine Ausnahme) wie bei Hawthorne kaum. Es ging um das Leben im Walde, meditativ wie ein indischer Eremit, möglichst allein.


Der Aufbau von Walden scheint denkbar einfach. Thoreau wählte Kontrastierung von jeweils zwei Bausteinen, wie Poe in Tales of the Arabesques and Grotesque (1840) oder Child in Fact and Fiction (1846) oder von Tales and Sketches wie zahlreiche andere. Nur bezeichnet er die Kontraste oder Parallelen zwischen den Kapiteln nicht, sondern lässt sie sein Publikum konstruieren. Etwa so:


ECONOMY 245 // WHERE I LIVED AND WHAT I LIVED FOR 298

READING 310 + SOUNDS 318

SOLITUDE 330 // VISITORS 337 

THE BEAN-FIELD 347 // THE VILLAGE 356 

THE PONDS 360 // BAKER FARM 378

HIGHER LAWS 384 // BRUTE NEIGHBORS 393

HOUSE-WARMING 402 + AND WINTER VISITORS 414 

WINTER ANIMALS 424 + THE POND IN WINTER 432

SPRING 442 + CONCLUSION


Sind „Ökonomie“ und „Leben“ ein Gegensatz oder eine Parallele? Lesen und Hören, Einsamkeit/Besucher und so weiter? Dieses Prinzip erstreckt sich auch auf die einzelnen Kapitel selbst (House-Warming/Former Inhabitants/Winter Visitors). Noch weiter: auf die einzelnen Paragraphen in den Kapiteln. Diese sind von unterschiedlicher Länge (von 12 bis zu 109 Paragraphen). Und auch die Paragraphen sind kunstvoll länger oder kürzer ausformuliert. Einige Sequenzen sind einfache Aufzählungen, Listen; andere formen neue Parallelen und Kontraste zwischen sich, welche die erhofften Leser:innen herstellen können.

Diese dreifache Verschränkung in der Konstruktion von Walden zwischen Kapiteln, Absätzen und Paragraphen in den Kapiteln scheint locker verbunden durch den Ablauf der Jahreszeiten. Doch es gibt mehr Verbindungen zwischen diesen Bausteinen. Die sorgfältig ausgewählten Tagebuch-Einträge durchzieht ein ein Netz von sich wiederholenden Bezügen von Anspielungen, Wiederholungen, Zitaten und Symbolen. Im Mittelpunkt des Netzes stehen die Teiche neben Concord. Die Komplexität der Konstruktion wird vielleicht erst wieder im Ulysses von James Joyce erreicht.

Hier nur kurz vier Beispiele, die einerseits Aufschlüsse über Walden, andererseits dessen historische Position in der Entwicklung der Sketch-Story markieren.

Zunächst das Zitieren. An exponierter Stelle, am Anfang des Buches, vor Kapitel eins fügte Thoreau ein Motto ein, sein Programm und zugleich ein Gruß an einen ähnlich gesinnten Schriftsteller:


I do not propose to write an ode to dejection, but to brag as lustily as chanticleer in the morning, standing up on his roost, if only to wake my neighbors up.


Einerseits eine Absage an Coleridge, Romantik, England, Reaktion auf die Französische Revolution; stattdessen ein Aufruf: Aufstehen, Zukunft, USA, und Fortschritt. Chanticleer, ein Symbol in Frankreich für die Revolution, welches bis auf Aesops Fabel vom Fuchs und der Krähe zurück geht (über Chaucers Version), der Morgen, der Sonnenaufgang gehören der Aufklärung, und Erwecken gehört in den Kontext der Wieder-Erweckungs-Bewegung in den USA der 40er Jahre. „Aufstehen“ hängt mit „Aufstand“ zusammen. Laut und klar. Soviel zur politisch-literarischen Resonanz des Mottos: Walden sollte die Nachbarschaft aufwecken und anregen, einen neuen Tag zu beginnen.

Andererseits ein Gruß an einen Kollegen, der im Dezember einen ähnlichen Aufruf im Harper’s New Monthly veröffentlicht hatte, mit dem Titel: "Cock-A-Doodle-Doo!" Der Autor war Herman Melville. (Die vierziger Jahre hatten 1848 vorbereitet). Soviel Anspielungen in 32 Wörtern verlangen genaues Lesen (Thoreaus Thema in Kapitel 3). Das Motto ist zugleich ein Beispiel dafür, wie Thoreau seine Sätze baut.

Hier ein weniger aufwendiger Paragraph:


Before the winter I built a chimney, and shingled the sides of my house, which were already impervious to rain, with imperfect and sappy shingles made of the first slice of the log, whose edges I was obliged to straighten with a plane. (Economy)


Ersetzt man “shingles” durch “paragraphs” erhält man die Konstruktionsmethode für Walden: die Revision der Tagebuch-Einträge. Faulkner schrieb einen Sketch über Dachdecken und Shingles (1943).


Zweitens, die Anspielungen. In „Conclusion“ entschuldigt sich Thoreau für die Dichte seines Texts:


I do not suppose that I have attained to obscurity, but I should be proud if no more fatal fault were found with my pages on this score than was found with the Walden ice.


Voher ging ein Paragraph, der begann mit “Why level downward to our dullest perception always, and praise that as common sense? … Some would find fault with the morning-red, if they ever got up early enough.” Dann zitiert Thoreau aus einer Geschichte der indischen Literatur von de Tassy (1839): ein Mystiker aus dem (15 soll angeblich vier Bedeutungs-Ebenen in seinen Versen angelegt haben: Illusion, Geist, Verstand und die exoterische Doktrin der Veda.

Die Probe aufs Exempel: Dachpfannen (Illusion = maya), (Bauelement (Geist = brahma), Kanten (Verstand = atman), Hobel (Doktrin = das Ganze von Walden). Die Anspielungen auf die Veden und Kabir, auf Indisches – daher auch die Baghadadvita – gehören zum Kontext des Transzendentalismus, dem esoterischen. Aber die Anspielung auf das Walden-Eis verweist wieder auf eine frühere Stelle in Walden, wo Kaminbau, Teich, und Kabir zusammen gebracht werden in einer symbolischen Verdichtung. Dies ist ein etwas längerer Paragraph, gehört aber zu den besten in Walden. Er steht als elfter im Kapitel „House Warming“, eingesetzt nach dem Kaminbau („The north wind had already begun to cool the pool …“) und dem einsetzenden Winter (At length the winter set in …“). In der Montage: Paragraph 5, P 6, P 7, p 8. P 9 -10 // 11 // P 12 usw. des ersten Teils (mit 19 Paragraphen) mit dem zweiten Teil des Kapitels, wieder eingeteilt in zwei parallele Abschnitte über Vorgänger und Besucher (mit insgesamt 24 Paragraphen). Hauswärme, Winter, Besucher und Teich treten in multiple Beziehungen. Der Teich (P 11) ist das Zentrum des ersten Teils. Diese Beschreibung verieft das Skizzieren in den USA:


The pond had in the meanwhile skimmed over in the shadiest and shallowest coves, some days or even weeks before the general freezing. The first ice is especially interesting and perfect, being hard, dark, and transparent, and affords the best opportunity that ever offers for examining the bottom where it is shallow; for you can lie at your length on ice only an inch thick, like a skater insect on the surface of the water, and study the bottom at your leisure, only two or three inches distant, like a picture behind a glass, and the water is necessarily always smooth then. There are many furrows in the sand where some creature has travelled about and doubled on its tracks; and, for wrecks, it is strewn with the cases of cadis worms made of minute grains of white quartz. Perhaps these have creased it, for you find some of their cases in the furrows, though they are deep and broad for them to make. But the ice itself is the object of most interest, though you must improve the earliest opportunity to study it. If you examine it closely the morning after it freezes, you find that the greater part of the bubbles, which at first appeared to be within it, are against its under surface, and that more are continually rising from the bottom; while the ice is as yet comparatively solid and dark, that is, you see the water through it. These bubbles are from an eightieth to an eighth of an inch in diameter, very clear and beautiful, and you see your face reflected in them through the ice. There may be thirty or forty of them to a square inch. There are also already within the ice narrow, oblong, perpendicular bubbles about half an inch long, sharp cones with the apex upward; or oftener, if the ice is quite fresh, minute spherical bubbles, one directly above another, like a string of beads. But these within the ice are not so numerous nor obvious as those beneath. I sometimes used to cast on stones to try the strength of the ice, and those which broke through carried in air with them, which formed very large and conspicuous white bubbles beneath. One day when I came to the same place forty-eight hours afterward, I found that these large bubbles were still perfect, though an inch more of ice had formed, as I could see distinctly by the seam in the edge of a cake. But as the last two days had been very warm, like an Indian summer, the ice was not now transparent, showing the dark green colour of the water, and the bottom, but opaque and whitish or grey, and though twice as thick was hardly stronger than before, for the air bubbles had greatly expanded under this heat and run together, and lost their regularity; they were no longer one directly over another, but often like silvery coins poured from a bag, one overlapping another, or in thin flakes, as if occupying slight cleavages. The beauty of the ice was gone, and it was too late to study the bottom. Being curious to know what position my great bubbles occupied, with regard to the new ice, I broke out a cake containing a middling-sized one, and turned it bottom upward. The new ice had formed around and under the bubble, so that it was included between the two ices. It was wholly in the lower ice, but close against the upper, and was flattish, or perhaps slightly lenticular, with a rounded edge, a quarter of an inch deep by four inches in diameter; and I was surprised to find that directly under the bubble the ice was melted with great regularity in the form of a saucer reversed, to the height of five-eighths of an inch in the middle, leaving a thin partition there between the water and the bubble, hardly an eighth of an inch thick; and in many places the small bubbles in this partition had burst out downward, and probably there was no ice at all under the largest bubbles, which were a foot in diameter. I inferred that the infinite number of minute bubbles which I had first seen against the under surface of the ice were now frozen in likewise, and that each, in its degree, had operated like a burning glass on the ice beneath to melt and rot it. These are the little air-guns which contribute to make the ice crack and whoop.


Dies soll das längste Zitat in meinem Buch bleiben, eine Symbolisierung des Lesens auf der Wende zwischen Agrikultur und Industrie und ein Versuch, tiefer zu blicken als die Illusion der Oberfläche, tief ins âtman. Vielleicht sogar etwas lentikular.

Es geht vordergründig um genaues Beobachten von Eis, Wasser und dem Grund des Sees, vermittelt durch die aufsteigenden Luftblasen vom Grund, bereits teilweise eingefroren. Darüber liegt der Beobachter, für den das Eis zwischen Unten und Oben vermittelt. Einerseits sieht er sein Spiegelbild im Eis. Darunter die verschiedenen Tiefen des Wassers. Alles ist doppelt: die Abschattungen des Wassers von seichter Stelle bis zur dunklen Untiefe. Das Eis hat zwei Oberflächen, eine oben, eine darunter (under surface). Man kann sie umdrehen und von unten betrachten. Die eingefrorenen Blasen haben sich z.t. verformt wie eine Linse, wie ein Teller. Wie ein Auge, ein Mikroskop, das den Betrachter von unten aus dem Wasser ansieht. Daraus kann der Betrachter schließen, dass die späteren Blasen wie ein Brennglas auf das Eis unter der größeren gewirkt haben müssen. Das ergibt die zweite Lektüre vom Eis. Ein weiterer Schluss führt zu den Geräuschen des Eis beim Tauen: die Blasen feuern wie kleine Luftgewehre …

Es gibt so zwei Lektüren des überfrierenden Sees: eine ist naturwissenschaftlich, ja experimentell (das Aussägen eines Eis-Stücks mit eingefrorener Blase, das Ausmessen, der Vergleich von vorher und nachher). Die zweite ist literarisch, ja symbolisch (die Blasen sind wie Perlenketten, Silbermünzen, das Eis ist schön, wie ein Bild hinter Glas). Beide Lesarten verbinden sich im Durchblick, den Geist mit dem Verstand. Beide führen ins Transzendentale: den atman der Veden und Upanischaden. Walden lässt sich vermessen (wie Thoreaus Messkarte von 1846 beweist), aber er lässt sich nicht ergründen. Das gilt für die Natur wie für das Buch. Noch einmal, das klärende Zitat vom Ende des Buches: „Why level downward to our dullest perception always, and praise that as common sense?“

Ersetzt man bubbles (17mal im Buch) durch „Gedanken“ und den Teich durch ein Buch erhält man eine symbolische Beschreibung des Lesevorgangs. Meine eigenen Gedankenblasen zu dem Paragraph ließen sich vervielfältigen durch andere Leseweisen, verbinden sich mit anderen Stellen im Buch. Walden ist eine Schulung in transzendentalem Sehen, welches naturwissenschaftliche und ästhetische Beobachtung verbindet. Dies ist ein großer Schritt über Hawthornes skizzierende Umwandlung von allegorischen Emblemen zu mehrdeutigen Symbolen. Es ist ein Schritt in Richtung Symbolismus gegen das Ende des Jahrhunderts, ein Schritt, den auch Poe versuchte in seiner letzten skizze zu „Landor‘s Cottage.“ Er führt zu L. Hearn.

Das Kapitel „The Ponds“ steht, wie schon erwähnt, im Zentrum des Buch. In den 34 Paragraphen über die drei Teiche werden die vielen Netzteile verknüpft, welche Thoreau über das Buch geworfen hat. Fast jeder Paragraph ein Prosa-Poem. Die Oberfläche der Teiche spiegelt den Himmel wieder wie große Augen. Das Netz ermöglicht viele Interpretationen, öffnet allegorische Analogien, Gleichnisse, Parabeln in mehrfacher Spiegelung und bildet so eine Schulung in ein vertieftes ja neues kritisches Lesen von Natur wie Büchern. Es bildet zugleich eine Absage an die aufkommende Photographie, die nur ein momentanes „Bild hinter Glas“ bieten kann, kein Eintauchen in die ganzheitliche Erfahrung von Natur und Buch, auch zur erneuernden Selbsterfahrung.

Es geht aber nicht nur um Natur und Lesen. Im Paragraph 5, vor dem zitierten Eis-Paragraphen, beschreibt Thoreau fast ebenso lang, wie er einen Kamin (Wärme) vor Winteranbruch baut. Die bricks übernehmen die Rolle der bubbles, aber diesmal geht es um das Produzieren, nicht um das Lesen von Texten: keine Nebuchadnezzar –Beschriftungen auf den Steinen. Der Zement kommt aus dem Teich. D.h. Paragraph 5 und 11 spiegeln sich, verdoppeln die Ästhetik. Die beiden Vertikalen ergänzen sich: 


The chimney is to some extent an independent structure, standing on the ground and rising through the house to the heavens; even after the house is burned down it still stands sometimes, and its importance and independence are apparent. 


Herman Melville bedankte sich zwei Jahre später bei Thoreau für den Gruß im Motto von Walden mit seiner eigenen Skizze „I and my Chimney“ (1856).

Hier noch einige weitere Belege: Kapitel 3 und 4 verknüpfen Lesen (in der Hütte) mit Geräuschen im Wald. „Sounds“ ist die erste streng beobachtende Klang- Skizze einer Landschaft, durchaus vergleichbar mit Childs musikalischer Fantasie „The Poet’s Soul“. James Joyce und John Cage würden später Ähnliches versuchen. 

Thoreau schaut in einen Brunnen und schließt: "One value even of the smallest well is, that when you look into it you see that earth is not a continent but insular." Oder kommentiert sein neues Leben: “Time is but the stream I go fishing in” (beide 2. Kapitel). Fischen ist wie das Ergründen (bottom) ein weiteres Leitmotiv in Walden.


Ein anderes ist das Dorf Concord. Es bekommt nicht nur ein eigenes Kapitel, es dient durchweg als Folie zum Leben im Walde. (Life in the Woods war der ursprüngliche Untertitel, eine Anspielung auf die Waldbücher der Veden. Das Dorf steht für Alles was in den USA falsch läuft. Es hat keine Bildungseinrichtungen, seine Kern-Institutionen sind der Krämerladen, die Post, usw. Der Dorfklatsch hält zwar zusammen, gilt aber jedem der nicht dazu gehört. Thoreau fühlt sich wie beim Spießrutenlaufen auf den Dorfstraßen, die überall mit duurch Schaufenstern und Reklame locken. Die Eisenbahn ist ein teuflisches Pferd, ein trojanisches Pferd für das Dorf. Concord plant, eine Leitung zum Walden Pond zu legen, um von dort fließendes Wasser zum Geschirrspülen zu pumpen. Die lange Kette der Kritikpunkte mündet schließlich in das Urteil:


Our village life would stagnate if it were not for the unexplored forests and meadows which surround it. We need the tonic of wildness-to wade some-times in marshes where the bittern and the meadow-hen lurk, ...." (“Spring”)


Thoreau glaubte nicht mehr an das idyllische Bild der Kleinstadt von Mitford. Die Bauern um Concord herum sind so unglücklich wie die von Clovernook bei Cincinnati. Unternehmer und neue Industrien zerstören oder verseuchen die Landschaft (Lowells Textilfabriken z.B. und ein Staudamm am Concord River.) Walden steht etwa in der Mittel zwischen „Sleepy Hollow“ (1820) und Main-travelled Roads (1891). Es nimmt Desert Solitaire (196x) und die Öko-Bewegung vorweg. Es dreht Mathers Gegensatzpaar von Wildnis und Stadt auf dem Hügel um.



Soviel vielleicht zur Erneuerung der Landschaftskizze. Erst bei Lafcadio Hearn finden sich wieder derart dicht komponierte Beschreibungen. Walden steht auch in anderer Hinsicht an einem Wendepunkt der Sketch-Story. Das Buch enthält nur kurze Charakterskizzen. Das Portrait von John Field, dem irischen Einwanderer greift Gogol und Tschechow auf. Field verdingt sich für 10 Dollar, das Feld eines Nachbarn umzugraben. Er versteht die USA nicht als seine Chance selbstständig zu werden: er ist in seinem Mantel, Futteral, Habitus gefangen („Baker Farm“). Die Bauern sind Opfer ihrer Farmen. Thoreau skizizert sich selbst mit einer geglückten Szene auf dem Teich rudernd einen Loon (Seetaucher) verfolgt. Der viel gejagte Wasservogel spielt mit ihm, taucht immer wieder vor und hinter ihm weg und verabschiedet sich überlegen schließlich lachend und heulend von ihm. Thoreau erkennt sich in ihm wieder. Mehrere Seen in den USA tragen den Namen „Loon Lake“ und e. L. Doctorow schrieb einen Roman mt diesem Titel (1980). Dort geht es um einen Poeten und einen Industrie –Tycoon.

Neben dem Bewusstsein in einem Habitus gefangen zu sein spielt bei Thoreau auch eine Ahnung für die zunehmende Industrialisierung und Verstädterung eine große Rolle. Sieben Jahre vor dem Bürgerkrieg verstand Thoreau, dass sich auch das Leben auf dem Lande, die Landwirtschaft und die Dorfgemeinschaft verändert. Einer der berühmten Sätze aus Walden lautet: „The mass of men lead lives of quiet desperation.“

Das war auf die Bauern um Concord herum, aber auch auf die Industrie-Arbeiter gemünzt: im Frühjahr lässt ein Unternehmer irische Arbeiter das Eis von Walden zersägen um es zu lagern und im Sommer zu verkaufen. Direkt am Teich verläuft die neue Eisenbahnlinie von Concord nach Fitchburg, was Thoreau zu einer beistimmenden Anspielung auf Hawthornes „Celestial Railroad“ veranlasst („Shelter“).


[Das Kapitel „The Village“ kontrastiert mit „The Bean-field“ und bedeutet eine Absage an die sentimentale Verherrlichung der Dorfgemeinde. Das Dorf ohne Wildnis herum ist dem Untergang geweiht.] Um seine Hütte herum findet Thoreau Spuren frühere Bewohner, die es nicht zu einem Dorf gebracht haben. Er fürchtet, der Gründer eines neuen Flecken an der Straße zu werden, und bricht aus: "Deliver me from a city built on the site of a more ancient city, whose materials are ruins, and whose garden cemeteries. The soil is blanched and accursed there, and before that becomes necessary the earth itself will be destroyed.” Das deutet vor auf Melvilles apokalyptisches Bild von London in Israel Potter.

Die Verknüpfung von Naturbetrachtung und Ästhetik bei Thoreau erinnert an „The Encantadas“ von Melville und dessen Vorbereitung auf Darwins Evolutionstheorie, den großen ideologischen Bruch mit Vorsehung und Teleologie, eine Wende. Beide verwerfen das Reiseschema wie das Lokalkolorit der drei Regionen und versuchen deren Beschränkungen zu durchbrechen.


In dem Essay „Walking“ (1862) versuchte er, die romantische Reiselust seit Irving in den ideologischen Zusammenhang mit sozialen Beziehungen zu stellen. Etymologisch stellte er zunächst Wandern als einen Ersatz für den Pilger dar (to saunter), jemanden ohne Erde (sans terre), der Alles hinter sich lässt. Ein Vagabund, ein Tramp. Extraterritorial. Hinter diesem „Alles“ stecken 1862 bereits die Fabrikarbeit, der Laden, das Heim, die Miliz. „Home“ ist eine Mansarde (garret) für versklavte Frauen. Auch Nachbarschaft und Straßen verhindern das Abenteuer. Das Abenteuer liegt im Westen in der Natur, fern der Zivilisation. Selbst gezähmtes Vieh reißt aus. Thoreau, Außenseiter, Junggeselle, wies zeitlebens auf den tiefliegenden Gegensatz zwischen Abenteuer und Heim hin, zwischen Wünschen von jungen Männern und Frauen. Ein lokaler Wanderer wie der frühe Hawthorne in Salem.]







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