CHAPTER VI:  1990 -2020


Saunders 2013

Tenth of December.

In den zehn Geschichten dieser Sammlung versucht George Saunders offensichtlich, eine gewisse Variation von Typen, Themen und Strukturen zu entwickeln. Zwei extrem kurze Skizzen stehen an einem Ende, zwei lange Novellen am anderen, darunter die oft abgedruckte Novelle (fast 60 Seiten) „The Semplica Girl Diairies“. Hinzu kommen eine Ritter-Parodie, ein Portrait, drei Parallelmontagen und eine Familienskizze („Home“), eine Weihnachtsgeschichte vom 10. Dezember.

Bei genauerem Hinsehen ergeben sich auch mehr Gemeinsamkeiten. Stilistisch der innere Monolog (einmal variiert als Tagebucheinträge gerichtet an eine Leserschaft der Zukunft) und die tongerechte Wiedergabe der US Umgangssprache voller Slang, Slogans, Euphemismen, Modeausdrücke von Teenagern, Erwachsenen und Werbagenturen bis hin zu Fehlbezeichnungen. Eine Sprache wie Müll, ein Abfallprodukt einer Kulturindustrie, Sprache als Mode, den Figuren in den Geschichten aufgeprägt. Soziale Konditonierung durch Massenmedien oder „Manufacturing Consent“ wie es Herman und Chomsky 1994 analysiert haben. Thematisch entspricht dem die Schilderung des Niedergangs der USA. Selbst die einzige tröstliche Geschichte „The Tenth of November“ endet mit dem Sterben des Protagonisten und einem etwas schwachsinnigen aber gutmütigen Jungen für die Zukunft.

Vier Beispiele. I n „The Semplica Girl Diaries“ werden junge Frauen aus ehemaligen Kolonien in die USA gelockt, um wie eine Lichterkette als Gartendekoration zu dienen zum Glück der Besitzer und ihrer Kinder (ein Alptraum, den Saunders hatte).

„Puppy“ enthüllt zwei Familien, in welchen die Kinder wenig mehr als Haustiere ihrer Eltern sind. Eine Mutter kettet ihren schwachsinnigen Sohn an einen Baum im Garten, um Besorgungen zu machen. Warenwelt.

„Al Roosten“ wird bei einem groteske n Auftritt im lokalen Fernsehen von einem vrmögenden Immobilienhändler so gedemütigt, dass er in Rache- oder Unterwerfungsfantasien schwelgt, bevor er seinen Hass auf die obdachlosen Bettler vor seinem verkommene Laden lenkt:

He believed they preferred to be called „homeless.“ Hadn’t he read that? „Hobo“ being derogatory? Jesus that took nerve. Guy never works a day in his life, just goes apund stealing pies off windowsills, then starts yelling about his rights? He’d like to walk up to a homeless and call him a hobo. He’d do it too, he would, he’d grab the damn hobo by the collar and go, Hey hobo, you’re ruining my business. I’ve missed my rent two months in a row. Go back to the foreign country you probably - (107)

Ein Trump Wähler? Wieder die Sprache, welche die Assoziationen in ihre stereotypen Bahnen lenkt. „Hadn’t he read that?“ Andererseits wäre Roosten gern Bügermeister „AL ROOSTEN: FRIEND TO ALL.“ Inkohärenz entlarvt das Profil von Al.

„Home“ ist eine Variante auf Hemingway’s „Soldier’s Home“ von 1925. Mikey, ein benommener Veteran, ist in irgendein Kriegsverbrechen verwickelt (über das wir nur in Andeutungen erfahren, in Al-Raz). Seine zerfallende Familie und Umgebung lösen in ihm solche Hassgefühle aus, das er bereit ist, alle auszulöschen. Wut, Übertragung, und Variante der Parabel vom „Verlorenen Sohn“: diesmal ist der Heimkehrer, nicht der Bruder, wütend. Die Parabel öffnet sich: Irak, Iran, Vietnam … Der Veteran als Opfer und Gefahr für die Zivilgesellschaft.

Mit anderen Worten, Saunders führt 2013 in seinen zwischen schwarzem Humor und Melodrama schwankenden Geschichten ein Amerika vor, das auch eine Erklärung dafür bietet, wie ein Fernsehstar und Immobilien-Millionär 2015 Präsident der USA werden konnte. Oder wie der ökonomische Niedergang ganzer Bevölkerungsschichten eine Welle von Hasskriminalität auslösen konnte. Der Schwachsinn und die vorgefertigten Fantasien der Hauptfiguren bieten für beides eine Erklärung: Anfälligkeit für Fremdenfeindlichkeit und Demagogie oder Massenmorde in Supermärkten oder Schulen. Gedankenkontrolle (thought control), wie es bei Chomsky (1989) heißt: Notwendige Illusionen, welche das Denkbare eingrenzen.

Das ist kein Terrorismus, der von außen ins Heimatland (Homeland) gebracht wird. Saunders legt die Ursachen für den Niedergang der Vereinigten Staaten in den entfesselten Kapitalismus und dessen Kulturindustrie (beides seit der Reagan Administration, ein weiterer Medienstar im weißem Haus). Wie Mark Twain, mit dem Saunders oft verglichen wird, lokalisiert Saunders das in einer Industrie des Spektakels. Aber es führt ein weiter Weg von Twains Satiren auf Barnum, Panoramen, oder Versteinerte Riesen. Saunders ist näher bei Guy Debord und seiner situationistischen Schrift The Society of the Spectacle ( 1967; Raubdruck in englischer Fassung New York 1970). Film, Fernsehen und die neuen digitalen Medien haben sich der Fantasie der Jugendlichen bemächtigt (z.T. durch die Illusionen ihrer Älteren über sie vermittelt) und ihre Sprache und damit ihre Wahrnehmungen so konditioniert, dass sie die wirklichen Kräft um sich nicht erkennen.

Seit "CivilWarLand in bad Decline" (1996) ist bei Saunders der Themenpark das Modell für die kapitalistische Gesellschaft nicht nur der USA. Die Inszenierung der eigenen Geschichte legt sich wie eine zweite Realität über die wirklichen Verhältnisse. Fantasyland hatte das Kurt Anderson (2017) in Anlehnung einer Abteilung von Disneyland genannt. In „My Chivalric Fiasco“ taucht der Park wieder auf als ein mittelalterliches Ritterspektakel, dessen Boss gerade eine Frau aus der Spülküche vergewaltigt hat, um sie dann mit einer Bereicheförderung zum Schweigen zu bringen. Eine selbstverliebte Bailarina-Fantasie bringt ein junges Mädchen an den Rand eines Vergewaltigungsversuches. Ein Vater, der seiner Tochter eine Geburtstagsparty mit einer Semplika-Mädchen Dekoration schenkt, lernt erst im Nachherein über die koloniale Ausbeutung von Frauen. Eine von ihnen heißt mit ihrem richtigen Namen „Happy Traveler“ in ihrer Sprache. In der Tat ist das ganze Tagebuch als ein „Streben nach Glück“ (pursuit of happiness) des Vaters zu lesen. Das Glück der Einen beruht auf der Versklavung Anderer. Das zeigt sich auch an den Arbeitsbedingungen von Angestellten in den Themenparks bei Saunders. Mikey, der Veteran, hat vor dem Krieg Unrat aus den Schwimmbecken der Reichen mit einer Forke entfernt, und dabei Berge von geplatzten Kaulquappen entdeckt. Was er mit seiner Kriegserfahrung vergleicht.

Diese herabgesetzte Einsichtsfähigkeit bei den meisten Figuren reflektiert sich in ihrer durch Werbung korrumpierten Sprache. Hier liegt die eigentliche Erneuerung der Sketch-stories in The Tenth of December. Sei es im Rundbrief des Abteilungsleiters an die Angestellten, welcher ihnen mit der Kündigung droht („Exhortation“), oder bei den Anordnungen zur Emotinons- und Verhaltenskontrolle von Versuchspersonen („Escape from Spiderhead“) oder den Gartendekorationen, treu den staatlichen Feiertagen und Ritualen folgend („Sticks“). Außenlenkung.

Eine fast Fünfzehnjährige sieht aus dem Fenster:

Actually she loved her whole town. That adorable grocer, spraying his lettuce! Pastor Carol, with her large cofortable butt! The chubby postman, gesticulating with his padded envelopes! ). It had once been a mill town. Wasn’t that crazy? What did that even mean? (5)

Wuterfüllt und traurig verlässt Al Roosten den Ort seiner Erniedrigung:

Off he drove through the town where he had live his whole life. The river was high. The grade school had an new bike rack. A ton of dogs leaped to the fence as usual as he passed the Flannery Kennel. Next to the kennel was Mike’s Gyros. Once during the terrible seventh grade year, Mom had taken him to Mike’s for a Coke. (101)

Die amerikanische Kleinstadt, einst Crevecoeurs Wiege und Symbol der Demokratie, ist hier ein lebenslanger monotoner Erniedrigungsweg, der letztlich zu seinem Gerümpelladen und den „Hobos“ führt. Der Trost mit einer Cola für
 schlechtes Abschneiden in der Schule hat nicht geholfen. Gewohnheiten schließen ihn ein: Feld – Habitus – Praxis.

Fast alle Geschichten durchziehen (auch fiktive) Markenbezeichnungen und Titel wie „a lunchtime auction of Local Celebrities, a Local Celebrity being a sucker dopey enough to aswer yes when the Chamber of Commerce asked” (92). Oder „TorchLightNight“, „Castle TowerIV“, SifterBoyDeLux“ „KnightLyfe“ heißen einige der Atttraktion des Ritterparks. Der Tagebuchschreibende Vater arbeitet in einem Themenpark names „Fling Fall“

Spektakel, Sprachmüll und getrübte Wahrnehmungsfähigkeit der Figuren hängen zusammen. Wie auch die Geschichten in der Sammlung. Keine Symmetrie oder biographische Reihung, aber bei der zweiten Lektüre erschließen sich unter andernen folgende Spiegelungen paarweiser Stories:

„Victory Lap“ / „Tenth of December,“ „Puppy“ / „The Semplica Diaires,“ „Victory Lap“ / „My Chivalric Fiasco“ und als Schlüssel zum Rest „Exhortation“ mit der Aufforderung, nicht darüber nachzudenken was man tut (84-85f.). Die gegenseitigen Erhellungen verdeutlichen die Botschaft: Ein Land das seine Kinder wie Haustiere dressiert, deren Eltern in Spektakel-Firmen – sprich Showbusiness- ausgebeutet oder im Labor wie Versuchskaninchen konditioniert werden, hat keine Zukunft. Selbst der kleine Rob, der wie Supermann wöchentlich jemanden retten muss, braucht dafür Untermenschen (Nethers), die er töten kann. Hinter der „Redeemer Nation“ (Tuveson 1968), hinter den Missionaren versteckte sich oft der Imperialismus. Mark Twain hatte das wiederholt seit Rouging It (1872) an Hawai und den Sandwich Islands gezeigt. Saunders schreibt nach Twain, London, Burroughs und Paley die schärfsten Skizzen des amerikanischen Imperiums.



George Saunders schrieb nicht zufällig die Einleitung zu Grace Paleys Collected Stories (2018, xi-xx), und Junot Díaz ist zu zustimmen, wenn er schreibt: „Few people cut as hard or deep as Saunder does.“ Auch Díaz und andere nach 1990 arbeiteten an einer solchen Kritik an der Korruption der Grundwerte der Unabhängigkeitserklärung: „life, liberty, and the pursuit of happiness.“ Spät (2021) erst fand Saunders Vorgänger bei Tschechow, Tugenjew, Tolstoi und Gogol in A Swim in a Pond in the Rain in which Four Russians give a Master Class on Writing, Reading, and Life. In den sieben Lektionen versucht er, seine Studierende an der Syracuse Universität, von der Konsensmanufaktur der US Kulturindustrie zu befreien. 


CHAPTER 8..








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