CHAPTER V: 1940-1990
Paley 1959
In einem Interview mit Kathleen Hulley (1982) gab Grace Paley Auskunft zu ihren Geschichten, gesammelt in drei Bänden: The Little Disturbances of Man (1959), Enormous Changes at the Last Minute (1974) und (damals noch in Vorbereitung) Later the Same Day (1985). Die 45, teilweise sehr kurzen Skizzen und Geschichten geschrieben zwischen 1955 und 1985 leiteten eine Wende in der Entwicklung der Sketch-Story ein. Sie markieren die Wende zu einem radikal feministischen Erzählen und eröffnen zugleich eine Phase multikulturellen Schreibens.
Gehen wir von ihrem Interview aus. Wir sind alle Geschichtenerzähler, sagt sie, es verlangt von uns, gut zuhören zu können. Sie beschreibt ihre Erzählkunst als Sammeln von Phrasen, Wörtern, Dialogen auf Zetteln, Briefumschlägen, herumliegenden Papieren usw.. Später überträgt sie diese Fragmente mit der Schreibmaschine, und erst dann beginnt die Arbeit an etwas, das eine Geschichte werden könnte. Mit andern Worten, sie führt kein Skizzenbuch, aber sie notiert fragmentarische Beobachtungen, welche sich z.T. erst nach Jahren zu einer Geschichte fügen lassen. Das heißt ihre Wortskizzen werden radikal re-oralisiert: sie stammen aus der amerikanischen Alltagssprache, gehört in New York. Dies gilt nicht nur für die Dialoge der Figuren in den Skizzen, sondern auch für die Erzählerinnen. Zum Erzählen schuf sich Paley ein alter Ego: Faith (statt Grace) Darwin (statt Paley). Paley war ein erbitterter theologischer Gegner von Charles Darwin, und Faith meint “Vertrauen” statt “Glaube”. Dieses muss erst erobert werden in schweren Zeiten des Kalten Krieges unter dem Schatten der Atombomben.
Faith gewinnt zunehmend ein sprachliches Profil, womit sie zwischen Figur im Dialog und Erzählerin wechselt. Ein berühmtes Beispiel ist “ A Conversation with my Father”, in welchem sich Faith mit ihrem alterndem Vater auseinander setzt, der meint, sie solle eher wieder wie Tschechow schreiben (da lagen ihre Anfänge) und weniger Witze machen. Da verdreifacht sich Faith: sie argumentiert mit ihrem Vater, sie berichtet darüber als Erzählerin, und sie legt ihm drei Proben einer neuen Geschichte vor, welche den Wünschen ihres Vaters entgegenkommt. Kunstvoll erscheint hinter den drei Sprechweisen und Rollen sowohl die Ästhetik von Grace Paley wie auch ihre tiefe Liebe zu ihrem Vater.
Das führt zum Zentrum der 45 Geschichten. Die amerikanische Sprache besteht nicht nur aus Stimmen, also gesprochenen Wörtern, Sätzen und Geschichten, sie ist auch lokal, ethnisch und nach Geschlechter-Rollen (gender) und Klassenzugehörigkeit geprägt. Hinzu treten noch die Altersunterschiede zwischen den Generationen, ein besonders wichtiger Aspekt für Paley (Interview).
(1) Stimmen: In den meisten “Geschichten” treffen verschiedene Stimmen aufeinander, und sie werden durch (verschriftlichte) Erzählerinnen repräsentiert. In “Goodbye and Good Luck” (1959) erzählt Tante Rose der jungen Zuhörerin Lillie ihre eigene skandalöse Liebesgeschichte aus dem jiddischen Theatermilieu. Eine Charakterskizze nicht so sehr einer Frau als ihrer Beziehung zu Männern. In einigen Geschichten erzählen Figuren ihrerseits anderen Figuren Geschichten. “The Immigrant Story” ist Teil einer Diskussion zwischen Faith und ihrem zweiten Mann Jack. Es geht um Kapitalismus, aber auch um ihre Beziehung zueinander. Jack erzählt die Geschichte seiner Eltern, beide Flüchtlinge aus Polen, erst er, dann sie, fast ganz verhungert. Paley hatte die Geschichte jahrelang als Skizze mit sich herum getragen. Sie fand keine Erzähler-Stimme für sie, bis es ihr einfiel, das Erzählen in einen Dialog einzubetten. Jacks Geschichte spiegelt/ klärt seine eigene Paargeschichte mit Faith. Es ist ein Spiel zwischen ihnen, der zweiten Generation, ein liebevolles Spiel. In “Love” schreibt sie ein Liebesgedicht an Jack. Der antwortet mit Anspielungen auf eigene und fiktive Liebesgeschichten wie Paleys erster veröffentlichten Geschichte – Intertextualität als Liebe und genaues Lesen. “The Contest” (1956). Anschließend gehen sie ins Bett. Jack ist ein guter Zuhörer. In “The Story Hearer” lässt er Faith von ihrem Tag, an dem sie viele Männer trifft, erzählen. Alle haben etwas mit ihm tun. Alle Vignetten spiegeln ihre eigene Beziehung, die Beziehungen einer Feministin mit Männern. Wiederholt spielen auch Gedichte eine Rolle in ihrer Verständigung mit Männern.
(2) Lokal: die meisten Geschichten spielen in Brooklyn. Die Nachbarschaft besteht vor allem aus Mietshäusern.Das Leben der Frauen und Kinder spielt sich auf der Straße, im Park, beim Einkauf oder am Spielplatz ab. Alltag von Hausfrauen und Müttern. Die Anwohner stammen aus verschiedenen Kulturen, irischer, jüdisch-polnischer oder nestorianischer Herkunft. Zunehmend kommen auch afroamerikanische. Dieser Teil von Brooklyn ist kein Ghetto oder Slum, eher eine Nachbarschaft der Mittelklasse. (Donald Barthelme, ein Freund von Grace Paley, wohnte in der Nähe.)
Diese Nachbarschaft ist ein Nachfolger der amerikanischen Kleinstadt des (19. Aber mit entscheidenden Unterschieden. Sie ist multikulturell. In den Dialogen zwischen den Bewohnern mischen sich die Sprachen und Gebräuche der Bewohner. Es entsteht eine neue Sprache und Kultur. Das geht nicht ohne Konflikte ab ("In the Garden" 1985, “Northeast Playground” oder “Politics” (1974), “An Interest in Life” 1959). Es geht um Rassismus, Klassismus, Adultismus (ageism) und immer wieder um Sexismus. Alle diese Ausdrücke fallen in den drei Bänden.
Vielleicht das beste Beispiel für für eine solche Gemeinschaftsskizze (eine, welche Faiths Vater als belanglos kritisierte) ist “Faith in a Tree” (1974). Faith ist im Park auf eine Platane geklettert, um sich einen besseren Überblick über die Nachbarschaft zu verschaffen. Hawthornes Steeple. Ihre beiden Söhne sind beschäftigt. Andere Mütter kümmern sich um ihre Kinder, halten an. Auch jüngere Väter begleiten ihre Kinder durch den Park. Es entstehen kurze Dialoge, Trialoge usw.. Faith steigt vom Baum herab und mischt sich ein, auf Augenhöhe. Da kommen die Kinder mit einer Parade von Kinderwagen, auf welche sie Schilder montiert haben, trommeln auf Töpfe, um Aufmerksamkeit auf ihre Frage zu richten: “Würden sie ein Kind verbrennen?” Es geht um Vietnam, und wir alle erinnern das Foto schreiender, nackter, verbrannter Kinder, welche vor den US Bomben und Napalm flüchten. Doch - keine Paraden im Park! Ein Polizist, der sonst Marihuana-Händler im Park duldet, schreitet ein. Von diesem Tag an wird Faith ihr Leben ändern. (Paley war zeitlebens Pazifistin). Wieder spiegeln die vielen extrem kurzen Vignetten im Park durch Machismo und Gewaltkontrolle unter Nachbarn die politische Gewalt der USA: “out of that sexy playground.” “Sexy” ist beobachteter Sprachgebrauch, gewinnt hier aber eine vielfache Resonanz feministischer Töne.
Das ist nicht alles. Diese Skizze kontrastiert mit einer anderen in der selben Sammlung (“Faith in the Afternoon”), in der wir über ihre Herkunft und ersten Ehemann erfahren, den Vater der Buben, welche die “Parade” organisiert haben. Die Platane (sycamore), auf der Faith sitzt, taucht in mehreren Skizzen auf, und wir erfahren das sie durch eine Nachbarschaftsinitiative gepflanzt wurde, um der Zerstörung durch die Stadt, ihrem Müll, ihrer verpesteten Luft etwas entgegen zu setzen. Der Marihuana-Händler im Park taucht in einer anderen Geschichte als Erzähler auf (“Come along, ye sons of art” 1974), wo er sich über den ganz legalen Kapitalismus seiner Schwester auslässt. Der Park wirft ein neues Licht auf Jerry Cook. Weitere Personen aus dem Park tauchen in anderen Vignetten auf. Vor allem Richard und Tonto (Anthony), die beiden Söhne von Faith, spielen eine wichtige Rolle, nicht nur als zukünftige Männer, sondern auch als Kinder eines Latino-Vaters, der ein Boheme-leben der Familie vorzieht.
Paley schreibt kein Lokalkolorit. Wie Maria Lydia Child dringt sie in ihrer New York Skizzen zu den juristischen Verhältnissen in der Stadt unter Klassen, Ethnien und Geschlechtern durch: zu den Gesellschaftsstrukturen der USA im Wandel. Anders als Child kontrastiert Paley Gemeinde (community) mit dem Häuslichen (domestic), verbunden mit der Stadt und der Nation, ihrer politischen Situation. Ihr Vorbild ist Joyce (Dubliners), mehr als Gertrude Stein (Interview).
(3) Ethnisch: Paleys Geschichten sind unter anderem auch eine Antwort auf die männliche jüdisch-amerikanische Kurzgeschichte, wie sie nach dem Holocaust und dem Zweiten Weltkrieg an Bedeutung gewann. Ihre Geschichten gewinnen, wenn man sie gegen solche von B. Malamud, S. Bellow, P. Roth oder I. J. Singer hält. “The Loudest Voice” (1959) ist noch am ehesten mit Philip Roth “The Conversion of the Jews” 1959) verwandt. Shirley Abramowith nimmt gegen Willen ihrer Eltern an einem christlichen Weihnachtsspiel ihrer Schule teil. Ihre Stimme setzt sich durch. Etwas darwinistischer und mit mehr schwarzem Humor geht es “In time which made a monkey of us all” (1959 zu. Eddie Teitlebaum, der bei seinem Vater in einem Haustierladen seines Vaters arbeitet, schafft sich einen Club von kindlichen Erfindern und Künstlern aus den Mietskasernen der Nachbarschaft, um sie von der Straße zu schaffen. Er erfindet eine Kakerlaken-Falle durch einen stromführenden Draht, der sie verschmort wenn sie aus ihren Löchern kommen. Als nächstes eine Stinkanlage, welche flatulente Luft durch Rohre in die Wohnungen ungeliebter Nachbarn führt, was sie zur Flucht aus den Häusern vertreibt. Ein Mordsspaß für die Kinder. Das beflügelt Eddie zu einem “War Attenuator”, der den Leuten beibringen soll, im Falle eines drohenden Krieges schneller aus dem Haus zu flüchten. Unglücklicherweise führt Carl, der Sohn des Hausmeisters auch ein Rohr in den Laden von Eddies Vater. Dort sterben nicht nur alle Kanarienvögel sondern auch “Itzig Halbfunt”, der nicht käufliche Affe, welcher Eddies Vater an dessen Bruder erinnerte, der in den „Epidemien 40, 41” in Polen verstorben war. Der Vater lässt seinen Sohn als unzurechnungsfähig einsperren und weigert sich, mit ihm noch zu reden. Doch die ungeliebte Nachbarin Goredinsky nutzt immer noch Eddies Kakerlagen - “Trenner“. Eddie hat in seiner Unwissenheit – Versäumnis auch seines Vaters – die Vernichtungsinstrumente der Nazis neu erfunden. (In einer Fußnote weist Paley auf ihre Quelle hin: dies ist eine wahre Geschichte aus dem jüdischen Ghetto). Er hat Itzig noch einmal getötet. Carl studiert Atomphysik und geht zur Marine. Eine Situationsskizze, die aus vielen aneinander gereihten Kurzszenen, Vignetten besteht. Zugleich eine Parabel auf den Kalten Krieg als Fortsetzung des Zweiten. Paley protestierte aktiv gegen viele US-Angriffe auf andere Staaten.
Als Sozialistin interessiert sich Faith auch für China. Sie bucht eine Reise mit einer Gruppe, und diese fühlt sich bei ihren Beobachtungen dort (“Somewhere Else”) durch einen chinesischen Beobachter gestört, der ihnen immer wieder das Fotografieren der Bevölkerung verbietet. Zurück in Brooklyn wollen sie eine Dia-Abend über die China-Reise machen, doch der Fotografierer kommt zu spät. Ihm ist nach einem Jugendprojekt in einem Slum in der Bronx beim Filmen die Kamera weggenommen worden. Zwei Situationskizzen werden montiert. Die Bronx ist nicht China, aber die Beobachterrolle des nicht-teilnehmenden Außenseiters wirft in beiden Probleme auf: menschliche Beziehungen sind keine Subjekt-Objekt Beziehungen. („Subjekt“ heißt wörtlich „Unterworfen“ und wechselt manchmal die Rolle mit „Objekt“.) Beobachten hat etwas von Dominieren. Fotografieren von Aneignen. Man muss aus seiner Platane oder Turmspitze herabsteigen.
„Somewhere Else” wird andererseits durch “The Expensive Moment” gespiegelt. Dort lernt Faith (nach dem Besuch bei einem kenntnisreichen und attraktiven Sinologen) eine Chinesin in Manhattan kennen und lädt sie auf deren Wunsch zu sich nach Hause ein. Ruth, eine Freundin, welche eine Tochter an eine terroristische Vereinigung verloren hat, stößt da zu. Alle drei müssen feststellen, dass sie der “teure Moment”, wo sie als Mütter die Gefahr laufen, ihre Kinder an eine Revolution zu verlieren, verbindet. Völkerverbindung nicht als Tourist, sondern als Teilhaberin. Geoffrey Crayon, Irvings alter ego, hatte in Little Britain die Kneipenlieder mit den Anwohnern zusammen gesungen, aber in der Kutsche seine Distanz zu den Dörflern und Schmieden gewahrt.
(4) Geschlechterrollen. Paley schrieb auch traditionelle Liebesgeschichten um. Bei ihr treffen Männlichkeit und Weiblichkeit aufeinander. Es geht um Domination, wie bei B. Franklin, C. B. Brown L. M. Child, H. Melville oder K. Chopin. In “The Contest” charakterisiert ein männlicher Erzähler die ehrgeizige Dotty Wassermann und entlarvt sich dabei selbst als Macho. Doppelportrait im Gendermodus wie bei „Ligeia.“ Im Wettbewerb geht es nicht nur um ein Preisausschreiben in einer jüdischen Zeitschrift (“Jews in the News”) oder den Preis (eine Reise nach Israel), sondern auch um den Wettbewerb der Geschlechter und Ethnien: Dotty findet Freddy Sims letztlich mit 100 $ und einer Ledertasche ab. Auch “An Irrevocable Diameter” (Sex mit einer Minderjährigen) oder “Come on, ye sons of art” (Jerry monologisiert vor Kitty, die er geschwängert hat, über Kapitalismus und dominiert sie dabei) schreiben das alte Thema der Partnerwahl um. Brutaler geht es in “The Little Girl“ (1974) um Vergewaltigung und Selbstmord einer 14 Jährigen, erzählt von einem coolen Mann, der dafür sein Apartment zur Verfügung gestellt hatte.
Frauen erzählen oder sehen Geschlechterbeziehungen anders. Entweder in ihren Ehemännern wie bei Faith in “Love” oder “Two Sad Stories”, in früheren Liebhabern (Fleischeslust in “The Pale Pink Roast”) oder in einer überraschenden späten Beziehung zwischen Besuchen bei ihrem alten Vater, den Alexandra liebt (“Enormous Changes at the Last Minute”). Alexandra will ein Kind, wird schwanger und trennt sich dann von Dennis. Die kurzen Dialoge zwischen den Partnern sind subtile Spiele der Dominanz oder Gleichstellung, wobei jedes Wort, jede Geste zählt. Man ist an Charles Brockden Browns „Alcuin“ (1789) erinnert. Gedichte und Lieder spielen ebenfalls eine Rolle in diesem Werben. In anderen Geschichten versuchen Mütter vergeblich, ihre Töchter vor falschen Partner zu retten (“Lavinia: An Old Story”, “Distance”). Die Töchter entgehen dem Vorbild ihrer Mütter oder wiederholen es. Die Reproduktion von Mutterschaft (Chodorow 1978) erfolgt nicht über die Nation wie bei Stein.
“Distanz” ist ein Schlüsselwort (Elias / Scotson 1990) auch in den drei Sammlungen. Bei menschlichen Interaktionen entsteht sie durch die Arbeitsteilung zwischen Männer und Frauen, Klassen, Ethnien und Altersgruppen. Das gilt für alle bisher erwähnten Sketch-Stories, meist in Kombinationen der vier Kategorien. Ein besonderes Gewicht legte Paley auf die Generationenfolge.
(4) Generationen: In fast allen 45 Geschichten kommen zumindest zwei Generationen zusammen, manchmal auch drei. Dabei entstehen ethnische Spannungen (Immigranten) oder männlich-weibliche Kreuzungen (Altersheime) oder es trifft Armut (Eltern) auf Wohlstand oder Mittelstand (Kinder, Partner). Generationen verdeutlichen sozialen Wandel.
“Faith in a Tree” als die breiteste Nachbarschaftsskizze von Brooklyn kontrastiert mit “The Long-Distance Runner”. Faith läuft nach Brighton Beach, wo sie ihre Kindheit verbracht hatte. “Distanz” hat offensichtlich hier mehrere Bedeutungen. Faith trainiert Langlauf und beginnt damit in ihrer alten Nachbarschaft, einst jüdisch-amerikanisch geprägt. Sie gerät in eine Gruppe schwarzer Jugendlicher, die sie verbal testen (Dominanzspiele), ein Mädchen rettet sie vor einer bedrohlichen Situation (Solidarität) und führt sie ins Haus ihrer ehemaligen Wohnung. Kinder machen ihr auf. Faith gewinnt ihr Vertrauen und das ihrer Mutter. Sie verlebt schließlich drei Wochen mit der vaterlosen Familie, gewinnt Gefallen an dem kleinen Donald (er mag Gedichte), bringt ihm besser Lesen bei, bis Mrs. Tully sie vor die Tür setzt: Faith ist dabei, die Mutter zu ersetzen. Zurück zuhause in Brooklyn versucht sie, diese Geschichte ihren beiden Söhnen zu erzählen. Erst beim zweiten Mal beginnen sie zu verstehen: Faith hat in Donald ihre eigene Kindheit wieder erlebt, und das hat auch eine Botschaft für Richard und Anthony:
A woman inside the steamy energy of midle age runs and runs. She finds the houses and streets where her childhood happened. She lives in them. She learns as though she was still a child what in the world is coming next. (Schluss)
Faith überbrückt mehrere Distanzen. Die Distanz zwischen Brooklyn and Brighton Beach ist nicht nur ethnisch, ökonomisch (die Tullys sind arm und leben in einem Slum), geschlechtlich (Faith-Söhne) sondern vor allem historisch. Kindheit „passiert“ nicht so etwa.
Faith im mittleren Alter reflektiert in Donald ihre eigene Entwicklung und spiegelt sie zurück an ihre eigenen Söhne. Es geht um die Zukunft, es geht um das Leben (beides Schlüsselwörter, noch häufiger als Distanz). In ihrer Widmung zu den Collected Stories zitiert Paley eine Freundin als Motto “how are we to live our lives?”
Darum geht es in allen 45 Geschichten. “Leben” hat viele Bedeutungen. In ihrem „Interview” sagte Paley, viele Schriftsteller griffen zu oft zum Selbstmord oder Tod, um ihren Geschichten mehr Gewicht zu geben. Doch Charaktere können weit mehr aushalten, als ihre Erzähler ihnen zu muten. Tolstoi ist unfair zu Anna Karenina, sagt sie. Das ist auch eine Absage an Hemingway, der seine Kurzgewchichten immer wieder mit Tod gewichtet. Alltag zählt.
Leben bei Palay ist das was Marx in den Februar-Thesen “das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse” bezeichnet hat, eine folgenreiche Formulierung (Bloch 1973, I, 290). Menschen leben ihr Leben nicht nur als Individuen, sondern in gesellschaftlichen Beziehungen. Und diese Beziehungen prägen ihren Charakter, ihren Habitus. Geschlecht, Alter, Klasse und Ethnie (Sprache, Glaube, Sitten, oft auf Hautfarbe reduziert) sind Grundkategorien gesellschaftlicher Verhältnisse. Grace Paley war Sozialistin. Das “Ensemble” bei Marx ist die Kurzformel für mehr als die Kominatorik der vier Kategorien. Sie totalisiert.
Ich erinnere an die Witze am Anfang diese Buches über Fontane oder die Gräfin Zitzewitz. Ich erinnere an die Webersche Definition von Rolle als Vermittler zwischen Charakter und Institution (Gerth/Mills 1952), exemplifiziert an Hawthorne’s Skizze “The Minister’s Black Veil”. Und ich greife voraus: der Feminismus in den USA erfährt eine moderne soziologische Interpretation durch Pierre Bourdieu in La domination masculine (1998). Bourdieus Thesen lassen sich durchweg auf Paleys Sketch Stories anwenden. Machen Sie den Versuch mit “In This Country …” (1985) oder “At That Time ..” , beide 1985, beide extrem kurz: die erste eine, die zweite zwei Seiten lang: Feld – Habitus - Praxis.
Das bringt mich abschließend zu der Kunst des Skizzierens von Paley. Die letzte Geschichte der Sammlung von 1985 heißt “Listening.” Sie enthält geradezu programmatisch Paleys Ästhetik und Politik. Paley hatte begonnen, Gedichte zu schreiben, fuhr damit auch fort, als ihre Skizzen endlich erschienen. Es hilft, sich die Texte als Prosa-gedichte zu lesen. Nicht symbolistisch wie bei Poe, Baudelaire oder Hearn, sondern wie bei Stein als Montage von Prosafragmenten (“Mallorca”).
Hier nur drei Beispiele.
“The Expensive Moment” (1985) Faith hat Streit mit Jack. Sie geht zu einem gut-aussehendene Sinologen, einem Freund. [es folgen meine Kommentare]
Actually they had seen him at the vegetable market. As an unmarried vegetarian sinologist [gender, ethnic] he bought bagfuls of broccoli and waited with other eaters for snow peas from California at $4.79 a pound [class]
'Are you lovers? Ruth asked.
Oh God, no. I'm pretty monogamous when I'm monogamous. Why are you laughing?
You're lying. Really Faith, why did you describe him at such length? You don't usually do that.
But the fun of talking, Ruthy. What about that? It's as good as fucking lots of times. Isn't it?
Oh boy, Ruth said, if it's that good, then it's got to be that bad. [gender talk]
At lunch Jack said, Ruth is not a Chinese cook [ethnic]. She doesn't mince words. She doesn't sauté a lot of imperial verbs and docile predicates like some women. [like Faith; gender talk, ethnic]
Faith left the rooom. Someday she said, I'm never to come back.
But I love the way Jack talks, said Ruth. He's a true gossip like us. [gender] And another thing, he's the only one who ever asks me anymore about Rachel. [her daughter lost to terrorism]
Don't trust him, said Faith. [pun on faith, gender]
After Faith slammed the door, Jack decided to buy a pipe so he could smoke thoughtfully in the evening. He wished he had a new dog or a new child or a new wife [gender] (2018, 387)
Paley kontrastiert weibliche und männliche Dialogstrategien (sisterhood, domination). Sie charakterisiert ethnisch und ökonomisch (in einem Satz, perspektiviert durch “they”). Sie montiert Vignetten (Einkauf, Freundinnen-Klatsch, Ehestreit) mit Zeitsprüngen “At lunch”). Wir müssen die Beziehung herstellen: “They” bereitet Ruth vor (oder meint es Jack und Faith, und Faith erzählt das Ruth?). /Schnitt/. Freundinnen klatschen über Sex: Faith hat Ruth den vorgehenden Abschnitt erzählt, der geschriebene Paragraph gibt mündlichen weiblichen Klatsch über Einkauf wieder, Ruth errät die sexuellen Bedürfnisse von Faith, Faith weicht aus, aber bewegt sich auf ihre Freundin zu: monogamous, fucking, good; Ruth antwortet mit bad: Afro American slang for “good”.
Dann Jack. /Schnitt/. “At lunch” markiert Zeit. Der Titel der letzten Sammlung Later the same Day kommt in den Texten selbst nicht vor, ist kein Zitat. Aber es wimmelt von Stummfilm-Zwischentiteln wie Meanwhile (Hemingway „Banal Story“). Der Buchttitel bezeichnet zugleich die Schnitttechnik wie die historische Ungleichzeitigkeit: Later (Wandel) und the Same Day (Kontinuität). Keine kontinuierliche Gegenwart, keine minimale Variation des Immergleichen wie bei G. Stein. Ganz im Gegenteil. Der Einkauf macht Appetit auf den Sinologen, der Ehebruch folgt auf den Streit mit Jack, die Ehe und die weibliche Soldarität bleiben bestehen. Die Vignetten-Montage fokussiert auf Faith und Ruth, der Ehebruch mit dem Sinologen dient nur als Vorbereitung für eine praktische (weibliche) Verständigung mit einer chinesischen Mutter. Feld – Habitus – Praxis.
Diese Vignetten-Montage von 1985 erlaubt mehr als Hemingways Kontraste für In Our Time (1925). Ethnische Konflikte (China-USA), Geschlechterrollen (Mütter gegen Väter), und Klassen (Sinologe // Jack) präludieren eine global Entscheidung: wie bereiten wir unsere Kinder auf die Zukunft vor. Im Interview wies Paley darauf hin, dass Fernsehserien weit mehr komplizierte Zeitschnitt-Techniken enthalten als die Postmodernen (Coover, Barth, Barthelme) benutzen.
Zweites Beispiel: “The Floating Truth”. Die jugendliche Erzählerin sucht Arbeit. Lionel vermittelt sie an Jonathan Stubblefield mit einem gefälschten Lebenslauf. Jonathan stellt sie ein im Büro, aber es gibt keine Arbeit dort. Folgender Dialog entspinnt sich beim Einstellungs-Interview:
‘What sort of memories can you young people of today have? You have a reputation for clothes and dope. You have no sense of history; you have no tragic sense. What is the Alsace-Lorraine? Can you tell me, my dear? What problem does it face, even today? You don’t know. Not innocent, but ignorant.’
‘You’re right,’ I said.
‘Of course,” he said. ‘You can’t deny it. The truth finds its own level and floats.” (123)
Die Herablassung erfolgt durch durch Alter (und Klasse), die doppelte Unterwerfung besiegt das “of course.” Die postmoderne Phrase von der schwebenden Wahrheit, welche Paley vielleicht mal notiert hatte, verdeckt die Domination (Gender, Class, Age). Aber sie wirkt zurück: der Lebenslauf (und die Einschätzung als Hippie) ist falsch, der Dialog hat verschiedene Bedeutungen für die Teilnehmer. Die Erzählerin nennt ihren neuen Chef Edsel – den Versager-Sohn von Henry Ford – ein Witz aus dem Mad Magazine, den Jonathan wohl nicht kennt. Eine Geschichte zum alltäglichen Klassen- und Geschlechterkampf.
Als sie ihm später widerspricht, was zu ihrer Kündigung führt, schreibt sie: “I looked at Jonathan Stubblefield, a man in tears - but only because of his lacrymal ducts – a man nevertheless with truth on his side.” (128) Flottierende Bedeutungen sind Machtspiele, sind Praxis aus Positionen im Feld.
Ein letztes Beispiel: in “Listening” (1985) überhört Faith eine Konversationen im Restaurant [sie notiert]. Am Nebentisch reden Männer über Selbstmord: einer ist Alkoholiker mit Kindern, der andere Ladenbesitzer mit Angestellten. Beide können es aus Verantwortung (noch) nicht tun:
The men congratulated each other on their unsentimentality, their levelheadedness. They said almost at the same time, You’re right, you’re right. I turned to look at them. A litle smile just tickled the corners of their lips. I passed one of my [pacifist] leaflets over the back of the booth. Without looking up, they began to read. (392)
Das ähnelt der Eröffnungszene in “The Passionate Pilgrim” (1876), aber welche Unterschiede. Paley braucht eine halbe Seite, um die Beziehung zu charakterisieren (Maskulinität, Klassenunterschied) und den Unterschied im Beobachten: sie schaut hin, die Männer nicht. Sie hört den Ton, liest aber gleichzeitig das Lächeln. Die Männer schauen nicht einmal auf.
Dies ist die zweite Vignette unter fünf. In ihnen wird zugehört: unter Männern (1,2,4) zwischen Mann und Frau (3 Faith und Jack) und zwischen Frauen (5 Faith und Cassie). Wir sind eingeladen, das Zuhören in den fünf Dialogen zu vergleichen, mit Blicken und ohne. Immer bringen die die Teilnehmer unterschiedliche Vergangenheiten mit sich, auch da, wo sie über die Zukunft sich einig sind. Alle Gespräche finden vor dem Hintergrund eines US Krieges statt: das Flugblatt kommentiert, dass die USA bereit ist, die Genfer Konvention zu achten (was nicht daselbe ist wie ihr juristisch auch zu folgen). Die Ungleichzeitigkeit der Momente spiegelt sich in den Dialogen, lokal wie global. Es gibt keinen Abenteuer-Chronotop mehr mit nicht-alternden Helden, auch keine parallele Entwicklung zwischen Heldin und Geschichte. Keine „Simultaneität“ wie bei Cotton Mathers Telepathie. Jeder Moment ist asynchron, und die Montage von Vignetten bringt es an den Tag. Am Schluss von “Listening” zwingt Cassie Faith, ihr ins Gesicht zu sehen. Gerade weil sie eine Freundin von ihr ist, wird Cassie ihr nicht verzeihen, dass sie eine lesbische Freundin aus den Geschichten heraus gelassen hat. Paley kann Waverley auf sieben Seiten schreiben und private und öffentliche Ungleichzeitigkeiten offen legen. Revolutionen im Alltag, nicht in Nationen. Paley hat die Kunst, Vignetten zu Geschichte zu montieren – seit dem Prototyp in In Our Time erprobt (1925) - auf eine neue Höhe gehoben. Und sie hat dem Dialog in den Skizzen zu neuer Frische und Schärfe verliehen. Kein Tschechow mehr für sie.